Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
Blick nieder.
Was, dachte Scarlet, passiert nur mit mir?
Langsam, fast so mühsam, als bereite es ihr Schmerzen, hielt sie die Hände unter den Wasserstrahl, alle beide, ganz wie in Trance, und sah zu, wie das kühle Nass über ihre wei ße Haut und das dunkle Blut lief.
Sie erschauderte bei dem Gedanken daran, das Blut abzuwischen, aber am Ende tat sie es trotzdem. Sie musste es tun. Sie wusste nicht, warum, aber sie fühlte, dass alles andere falsch wäre.
Mit unsicheren Bewegungen rieb sie sich das verkrustete Blut von der Haut. Das Wasser in dem Becken färbte sich rot. Wieder schwindelte ihr, und die Ränder der Bilder, die sie noch nicht zu fassen bekam, konnte sie nun fast berühren. In hellen Streifen schwamm das Rot in dem klaren Wasser, gerade so, als sei es ein lebendiges Wesen. Und für einen kurzen Moment war es Scarlet, als erkenne sie ein dunkelhäutiges
Gesicht in den verschlungenen Linien, die sich wie Lebewesen bewegten und fortwährend ihre Form veränderten. Es war ein stolzes Gesicht, mit Augen, die verschwunden waren, bevor sie einen Blick hatte hineinwerfen können.
Scarlet schluckte.
Ihr schwindelte.
So sehr, dass sie sich am Rand des Waschbeckens festhalten musste, wollte sie nicht stürzen.
Dann begann sie zu weinen.
Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten, nein, nicht mehr. Es half nicht im Geringsten, dass sie keinerlei Ahnung hatte, warum genau sie weinte. Die Tränen waren da, und sie tropften ins Wasser zu all dem Blut und vermischten sich damit, als wollte ein Teil von ihr sich mit dem Blut vereinigen, als wollte sie nicht loslassen, was einst gewesen war.
Scarlet , dachte sie benommen. Scharlachrot .
Hatten Namen eine Bedeutung?
Ihrem Spiegelbild, von dem sie nur wusste, dass es den gleichen Namen trug wie sie selbst, liefen die Tränen übers Gesicht, und in seinen Augen spiegelte sich eine junge Frau, in deren dunklen Augen sich weitere Spiegel spiegelten. Spiegel im Spiegel, und keiner wusste etwas anderes zu flüstern als den Namen, der nicht mehr war als die einzige Erinnerung, die man ihr nicht gestohlen hatte.
»Sei nicht töricht!«, schalt sie sich wütend, und die dunklen Augen trockneten, als der Trotz in ihnen erglomm und stärker wurde. »Du kennst deinen Namen, das ist doch immerhin ein Anfang.«
Sie drehte sich um, machte auf der Stelle kehrt. Schnellen Schrittes verließ sie das Bad. Ihre Hände zitterten.
Von irgendwoher hörte sie ein Rascheln.
Papier, das wisperte.
Da, unten!
Sie ging die Wendeltreppe, die sich um den Stamm des Ahorns wand, hinunter. Und erst als sie die unteren Stufen erreichte, bemerkte sie, dass sie doch nicht allein in der Mühle war.
An dem Tisch neben der Küche saß ein junger Mann, der sie betrachtete.
Er las in einer zerknitterten Zeitung. Und eine große Tasse mit dampfendem Kaffee stand auf dem Tisch, nichts sonst.
»Oh, hallo«, begrüßte er sie, als sei Scarlet schon immer hier gewesen. Er sah aus, als hätten seine kurz geschnittenen Haare schon seit Jahren weder eine Bürste noch einen Kamm gesehen.
»Ebenfalls oh, hallo «, antwortete Scarlet nur. Etwas Besseres fiel ihr im Augenblick nicht ein.
Dann ging sie die letzten Stufen hinunter.
»Du musst Scarlet Hawthorne sein«, sagte er. Er trug abgewetzte Jeans und ein schwarzes T-Shirt, dazu braune Bikerboots. Sein unrasiertes Gesicht zierte eine Brille mit schwarzem Rand. Ein brauner Pullover mit Kapuze hing am Stuhl neben ihm, ein abgewetzter Ledermantel lag im Gras.
Der junge Mann schwang sich vom Stuhl und kam auf sie zu, reichte ihr eine Hand. Die vielen Symbolanhänger, die ihm an einem Lederband um den Hals baumelten, klimperten ganz leise, wenn er sich bewegte.
»Hey, ich bin Jakob Sawyer«, stellte er sich vor. »Jake!« Und dann erklärte er: »Mistress Atwood ist noch unterwegs.« Er drehte den Kopf zur Seite, und Scarlet bemerkte, dass er auf
eine laut tickende Wanduhr schaute, die drüben zwischen den Hecken stand. »Sie wird aber nicht lange bleiben, nicht heute.« Er sah sie an, mit Augen, die wie die Wasser eines Sees waren. »Kaffee?«, fragte er schließlich.
Scarlet nickte und streckte sich. »Ja, gern.« Sie wunderte sich selbst über die Antwort, aber letzten Endes war Kaffee jetzt genau das, was sie brauchte.
»Diese Mühle ist ein Wunder, nicht wahr? Als ich das erste Mal hier war, da glaubte ich, in Gillikan, Winkus oder im Munchkinland gelandet zu sein.« Er grinste. »Mistress Atwood hat einen eigenwilligen Geschmack, findest
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