Die Urth der Neuen Sonne
größer; erst jetzt erkannte ich, daß seine Flügel Notulen waren. Es landete plump zwischen weißen Wölfen auf rissiger Schlammkruste.
Ohne mich zu erinnern, wie ich aufgestiegen war, saß ich auf seinem Rücken und glitt davon. Mondbeschienene Wellen schlugen über mir zusammen, und ich sah die Zitadelle unter mir liegen. Fische, groß wie Schiffe, schwammen zwischen den Türmen, die doch nicht umgestürzt waren; vom Wasser abgesehen und den schlingenden Pflanzen, war alles, wie es gewesen war. Zitternd fürchtete ich, die Turmspitzen würden mich aufspießen. Die schwere Kanone, die geschossen hatte, als ich zur Präfektin Prisca gebracht wurde, donnerte abermals und zerteilte den Ozean mit einer brausenden Dampffontäne.
Der Schuß traf mich, aber nicht ich starb – vielmehr verschwand die überschwemmte Zitadelle wie der Traum, der sie war, und ich schwamm durch den Spalt der Ringmauer in die echte Zitadelle. Die Turmspitzen ragten aus den Wellen, und dazwischen saß, bis zum Hals eingetaucht und Fische essend, Juturna höchsteigen.
»Du hast überlebt!« rief ich ihr zu und hielt auch dies nur für einen Traum. Sie nickte. »Du nicht.«
Ich war schwach vor Hunger und Furcht, fragte aber: »Also bin ich tot? Und bin am Ort der Toten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Du lebst.«
»Ich schlafe.«
»Nein. Du hast …« Sie hielt kauend inne. Ihr riesiges Gesicht verriet keinerlei Regung. Als sie wieder sprach, schnellten an ihrem Kinn Fische – nicht die Riesenfische meines Traumes, sondern kleine silberne von der Größe eines Barsches – aus dem Wasser und schnappten sich die Reste, die von ihren Lippen fielen. »Du hast dein Leben aufgegeben oder es zumindest versucht. Bis zu einem gewissen Maß ist es dir gelungen.«
»Ich träume.«
»Nein, du träumst nicht mehr. Sonst würdest du sterben, wenn du könntest.«
»Es kam daher, daß ich Thecla nicht leiden sehen konnte, nicht wahr? Nun habe ich die Urth sterben sehen, und ich war ihr Mörder.«
»Wer warst du«, fragte sie mich, »als du vor dem Richterstuhl des Hierogrammaten standest?«
»Jemand, der noch nicht alles zerstört hatte, das er liebte.«
»Du warst Urth, und deshalb lebt die Urth.«
Ich rief: »Das hier ist Ushas!«
»Wenn du meinst. Aber die Urth lebt in Ushas und dir.«
»Ich muß nachdenken«, meinte ich. »Fortgehen und nachdenken.« Ich wollte nicht betteln, aber als ich meine Stimme hörte, wußte ich, daß es die Stimme eines Bettlers war.
»Dann tu das.«
Ich blickte verzagt auf die halb überschwemmte Zitadelle.
Juturna deutete wie eine Stadtfrau, die einem verirrten Wanderer den Weg weist, während sie mit der Hand in Richtungen zeigte, die ich bisher nicht gesehen hatte. »Da ist die Zukunft, dort die Vergangenheit. Hier ist der Rand der Welt. Jenseits davon sind die andern Welten deiner Sonne und die Welten andrer Sonnen. Hier fließt der Strom, der im Yesod entspringt und ins Briah fließt.«
Ich zögerte nicht.
Apu-Punchau
Das Wasser war nicht mehr nachtschwarz, sondern dunkelgrün. Ich bemerkte darin zahllose Pflanzen, die aufrecht wuchsen und an denen die Strömung zerrte. Der Hunger gaukelte mir Juturnas Fische vor; dennoch sah ich den Ozean schwinden: er löste sich auf, wurde leichter, zerfiel in Tröpfchen, bis nur mehr Nebel übrigblieb.
Ich atmete ein, und es war Luft, nicht Wasser, die mir die Lungen füllte. Ich stampfte auf und hatte festen Boden unter den Füßen.
Aus den Fluten war eine Pampa geworden mit hüfthohem Gras, ein Grasmeer, dessen Ufer sich in weißen Schwaden verloren, als tanzte dort eine Geisterhorde einen schnellen stillen Reigen. Der Nebel konnte mir nicht angst machen, obwohl er so mulmig wie ein Gespenst in einer mitternächtlichen Gruselgeschichte war. Um etwas Eßbares zu finden und mich zu wärmen, setzte ich mich in Bewegung.
Es heißt, wer im Dunkeln und insbesondere wer im Nebel wandert, der geht immerfort im Kreis. Vielleicht traf dies auch auf mich zu, obwohl ich es in Frage stelle. Ein schwacher Wind wühlte den Nebel auf, und ich behielt den Wind stets im Rücken.
Einst war ich lächelnd durch den Wasserweg gezogen und hatte mich für einen Pechvogel gehalten und in dieser Unglückseligkeit geschwelgt. Jetzt wußte ich, daß ich seinerzeit die Reise angetreten hatte, die mich zum Henker der Urth machen sollte; und obschon mein Werk vollbracht war, könnte ich nie wieder glücklich sein – obwohl ich nach ein, zwei Wachen wohl schon darüber
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