Die Urth der Neuen Sonne
obgleich ich sie fürchtete, fürchtete ich, wie sich zeigte, den Tod noch mehr.
Als ich auf einem Felsvorsprung im Hang des Mount Typhon saß und Typhons Soldaten anrückten, hatte ich die Weide, die jenseits von Briah liegt, so deutlich gesehen, wie ich nun unsre Maisfelder sah. Freilich war ich damals die Neue Sonne und konnte von der ganzen Macht meines Sterns zehren, trotzdem er noch so fern war. Jetzt war ich nicht mehr die Neue Sonne, und die Alte Sonne würde noch lange herrschen. Ein-, zweimal hatte ich, wenn ich schon halb schlief, das Gefühl, die Korridore der Zeit ragten aus einer Ecke unsrer Kammer. Immer wenn ich mich in einen der Korridore fortstehlen wollte, wurde ich wach; und dann war da nur mehr Wand und die Dachbalken darüber.
Einmal stieg ich wieder zur Schlucht hinab und ging ostwärts zurück, woher ich gekommen war. Schließlich stolperte ich über das klägliche Mäuerlein, das ich beim Brüllen der Katze errichtet hatte, und obwohl ich noch weiter ging, kehrte ich am Tag nach meinem Aufbruch in die steinerne Stadt zurück.
Als ich schließlich jeglichen Überblick über die Jahre verloren hatte, sah ich ein, daß ich, wenn ich schon nicht mehr in die Korridore der Zeit zurückfände – und ich fand nicht mehr zurück –, Juturna finden müßte; aber um sie zu finden, müßte ich zunächst das Meer finden.
Als der neue Tag graute, schlug ich Fladenbrot und Dörrfleisch in ein Tuch und verließ die steinerne Stadt in Richtung Westen. Meine Beine waren steif, und als ich sieben oder acht Wachen ohne Pause marschiert war, stürzte ich und verstauchte mir den Knöchel dabei. Mir war fast, als wäre ich wieder der Severian geworden, der an Bord von Tzadkiels Schiff ging. Wie dieser schaute ich nicht zurück, sondern setzte unbeirrt meinen Weg fort. Längst war ich die Glut der Alten Sonne gewohnt, und außerdem neigte sich das Jahr.
Der junge Hetman und eine Männerschar aus der steinernen Stadt holten mich ein, als die Alte Sonne links von der Urth stand. Schließlich packten sie mich an den Armen und wollten mich zur Umkehr zwingen. Ich weigerte mich; mein Ziel sei das Meer, erklärte ich ihnen, und ich wolle nie mehr zu ihnen zurück.
Ich setzte mich auf und sah nichts; im ersten Moment glaubte ich, erblindet zu sein.
Ossipago erschien, der blau strahlte. Er sagte: »Wir sind da, Severian.« In dem Wissen, daß er ein Automat war, der Diener und Herr zugleich von Barbatus und Famulimus, erwiderte ich: »Mit Licht – Gott der Maschine. So sprach Meister Malrubius, als er kam.«
Barbatus’ wohlklingender Bariton erhellte die Düsternis. »Du bist bei Bewußtsein. Woran erinnerst du dich?«
»An alles«, erwiderte ich. »Ich kann mich stets an alles erinnern.« Zersetzung lag in der Luft, der Gestank von Verwesung.
Famulimus säuselte: »Deshalb wurdest du erkoren, Severian. Du, und du allein unter vielen Prinzen. Du allein, um dein Geschlecht vor Lethe zu bewahren.«
»Um es dann im Stich zu lassen?« hielt ich dagegen.
Eine Antwort blieb aus.
»Ich habe mir dazu Gedanken gemacht«, erklärte ich ihnen. »Ich wäre eher zurückgekommen, wenn ich gewußt hätte wie.«
Ossipagos Stimme war so tief, daß man sie mehr fühlte als hörte. »Verstehst du, warum du nicht gekonnt hast?«
Ich nickte blöde. »Weil ich die Macht der Neuen Sonne benutzte, um in der Zeit zurückzugehen, bis die Neue Sonne nicht mehr existierte. Ich hielt euch drei einst für Götter und die Hierarchen für noch höhere Götter. Ebenso hielten die Autochthonen mich für einen Gott und fürchteten, ich würde ins westliche Meer tauchen und sie allein lassen in Nacht und Winter. Aber nur der Increatus ist Gott, der Realitäten schafft und löscht. Wir übrigen, Tzadkiel eingeschlossen, üben nur aus, was er an Macht schafft.« Obwohl es nie mein Talent war, Vergleiche anzustellen, griff ich nun zu einem Bild. »Es ist gewesen, wie wenn ein Heer sich so weit zurückzieht, daß es von seinem Stützpunkt abgeschnitten ist.« Ich konnte nicht für mich behalten, was mir auf der Zunge lag. »Ein geschlagenes Heer.«
»Im Krieg dürfen sich Truppen erst ergeben, Severian, wenn die Hörner zum ›Waffenstrecken‹ blasen. Vorher kennen sie kein Ergeben, auch wenn’s das Leben kostet.«
Barbatus meinte: »Und wer kann sagen, daß es nicht zum Besten gewesen ist? Wir sind alle Werkzeuge in seiner Hand.«
Ich erklärte darauf: »Noch etwas habe ich verstanden, das ich bisher nicht richtig erfaßt habe: warum
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