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Die Urth der Neuen Sonne

Die Urth der Neuen Sonne

Titel: Die Urth der Neuen Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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ich nach dem Tau greifen müßte, wollte ich nicht sterben, und beabsichtigte, mir, sobald ich danach griffe, den Garaus zu machen. Nun griff ich nicht danach, sondern hechtete mich auf ihn und bremste meinen Sprung, indem ich ihm das Messer in die Brust rannte.
    Ich sagte, ich bremste meinen Sprung, aber in Wirklichkeit wäre mir das fast mißlungen. Schon flogen wir herum, er wie ein vertäutes Boot, ich wie ein zweites daran festgemachtes. Blut von der gleichen tiefroten Farbe, fand ich, wie menschliches Blut, trat rings um die Klinge hervor und bildete Kugeln wie Granate, die zugleich kochten, gefroren und zerbröselten, als sie aus seiner Lufthülle fielen.
    Einen Moment lang fürchtete ich, ich könnte das Messer nicht mehr halten. Dann zerrte ich daran, und erwartungsgemäß boten seine Rippen so viel Widerstand, daß ich mich ans Tau ziehen konnte. Natürlich hätte ich unverzüglich höher steigen sollen, aber ich hielt kurz inne, um ihn zu betrachten. Irgendwie hatte ich die Idee, daß die Klauen, die ich gesehen hatte, künstlich sein könnten wie die stählernen Klauen der Magier oder das Lucivee, womit Agia mir die Wange geritzt hatte, und ich, wären sie künstlich, vielleicht Verwendung dafür hätte.
    Sie waren es offenbar nicht. Vielmehr schienen sie von einem gräßlichen chirurgischen Eingriff herzurühren, dem er als Kind unterzogen wurde, wie die Verstümmelungen an Männern bei gewissen Stämmen der Autochthonen. Seine Finger waren umgebildet zu den Klauen eines Höhlenbären – häßlich und harmlos, unfähig, andere Waffen zu halten.
    Ehe ich mich abwenden konnte, wurde ich auf seine menschlichen Züge aufmerksam. Ich hatte ihn erstochen, wie ich so viele andere getötet hatte, ohne daß ein Wort gefallen wäre. Es galt als Regel bei den Folterern, weder mit einem Klienten zu sprechen noch einem Klienten zuzuhören, sollte er etwas äußern. Daß alle Menschen Folterer seien, war eine meiner ersten Einsichten; hier wurde mir vom gemarterten Bärenmenschen vor Augen geführt, daß ich ein Folterer geblieben war. Er war ein Gierer, stimmt; aber wer konnte sagen, ob er dieses Bündnis freiwillig gewählt hatte? Daß er auf der Seite der Gierer kämpfte, dafür hatte er vielleicht ebenso gute Gründe wie ich, der ich für Sidero und einen Kapitän kämpfte, den ich nicht kannte. Den Fuß auf seine Brust gestemmt, bückte ich mich und riß mit einem Ruck das Messer heraus.
    Er öffnete die Augen und brüllte, obwohl ihm schäumendes Blut aus dem Mund flog. Daß ich ihn in dieser unendlichen Stille hörte, mutete mich seltsamer an als daß er, der scheinbar Tote, wieder lebte. Freilich waren wir uns so nahe, daß unsere Atmosphären ineinander übergingen und ich gar das Blut aus seiner Wunde sprühen hörte.
    Ich stach nach seinem Gesicht. Unglücklicherweise traf die Spitze das dicke Stirnbein des Schädels; da ich mit den Füßen keinen Halt hatte, fehlte dem Stoß die Kraft zum Eindringen, so daß ich abprallte, zurück in die Leere, die mich umgab.
    Er packte mich plötzlich und zerkratzte mir mit den Klauen den Arm, und zornig trieben wir zusammen davon. Zwischen uns baumelte das Messer, dessen polierte blutige Klinge im Sternenschein glitzerte. Ich versuchte, danach zu fassen, aber er schlug es mit den Klauen hinaus ins Vakuum. Ich bekam mit den Fingern sein Halsband aus Zylindern zu fassen und riß es ab. Nun hätte er sich an mich klammern sollen, aber das konnte er vielleicht nicht, nicht mit diesen Händen.
    Vielmehr schlug er nach mir, und während ich davonwirbelte, sah ich ihn nach Luft schnappen und sterben. Reue und die Gewißheit, daß ich ihm bald in den Tod folgen würde, erstickten jeden Anflug von Triumph. Reue, weil ich seinen Tod bedauerte mit der schlichten Aufrichtigkeit, die der Verstand aufbringt, sobald er nicht Gefahr läuft, sie unter Beweis stellen zu müssen; Gewißheit, weil durch meinen Kurs und die Winkel der Masten auf der Hand lag, daß ich nie wieder näher herankäme an einen Fetzen Takelung als jetzt. Ich hatte keine rechte Ahnung, wie lange die vom Halsband gebundene Luft reichte: eine Woche oder mehr, glaubte ich. Ich hatte einen doppelten Vorrat – also drei Wachen im Höchstfall. Danach würde ich, immer schneller keuchend, je mehr die Lebenskraft in meiner Atmosphäre in der Form eingeschlossen wäre, die nur Bäume und Pflanzen aufnehmen können, langsam sterben.
    Nun besann ich mich, wie ich die bleierne Schatulle, die mein Manuskript enthielt, in das

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