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Die Urth der Neuen Sonne

Die Urth der Neuen Sonne

Titel: Die Urth der Neuen Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Nichts geworfen hatte und somit gerettet worden war; und ich überlegte, was ich nun werfen könnte. Die Halsbänder abzustoßen, würde den Tod bedeuten. Ich dachte an meine Stiefel, aber schon einmal hatte ich Stiefel geopfert, als ich zum ersten Mal in meinem Leben neben dem alles verschlingenden Meer stand. Ich hatte die Trümmer von Terminus Est in den See Diuturna geworfen: dies suggerierte das Jagdmesser, das mir so übel mitgespielt hatte. Aber es war bereits weg.
    Übrig blieb mein Gürtel, daran die schwarze Lederscheide mit den neun Chrysos im Seitentäschchen und die entladene Pistole im Halfter. Ich steckte die Chrysos ein, schnallte Gürtelscheide, Pistole und Halfter ab, hauchte ein Stoßgebet und schleuderte sie davon.
    Das beschleunigte meinen Flug sogleich, lenkte ihn aber nicht (wie ich erhofft hatte) zum Deck oder zu einem Stück Takelung. Schon war ich auf gleicher Höhe mit den Mastspitzen zu beiden Seiten. Als ich zum Deck blickte, das rasch kleiner wurde, sah ich einen einzigen violetten Strahl zwischen den Masten aufblitzen. Dann war nichts mehr, nur die unheimliche Stille des Vakuums.
    Bald, und mit der Intensität, die verdeutlicht, wie bedacht wir darauf sind, alle Gedanken an den Tod zu meiden, überlegte ich, warum denn niemand auf mich geschossen hatte wie bei meinem Sprung auf den Mast und warum jetzt niemand schoß.
    Ich stieg über den heckseitigen Mast hinaus, und plötzlich wurden alle solchen müßigen Fragen nebensächlich.
    Übers oberste Segel steigend, wie die Neue Sonne der Urth eines Tages über die Mauer von Nessus steigen mag (doch weit, weitaus größer und schöner, als die Neue Sonne es je sein könnte, wie auch das kleinste oberste Segel ein ganzer silberner Kontinent war, zu dem sich die mächtige Mauer von Nessus, Meilen hoch und Tausende von Meilen lang, im Vergleich als eingefallener Zaun eines Schafspferchs ausgenommen hätte), erhob sich eine Sonne, wie sie keiner je schauen wird, dessen Füße auf Gras stehen – die Geburt eines neuen Universums, der Urknall, der jede Sonne in sich birgt, weil aus ihm alle Sonnen hervorgehen, die Ursonne, Mutter aller Sonnen. Wie lange ich sie staunend betrachtet habe, weiß ich nicht; aber als ich wieder nach den Masten unter mir schaute, waren diese und das Schiff weit, weit weg.
    Und dann wunderte ich mich, denn ich entsann mich, daß ich, als mein Häuflein Matrosen den Riß im Rumpf erreichte und hinausschaute, keine Sterne gesehen hatte.
    Ich drehte den Kopf und sah in die entgegengesetzte Richtung. Dort standen noch Sterne, aber mir war, als würden sie sich zu einer großen Scheibe am Firmament formieren, und als ich die Ränder dieser Scheibe betrachtete, sah ich, daß die Sterne fleckig und alt waren. Seit jener Zeit habe ich oft über jenen Anblick gegrübelt, hier am allesverschlingenden Meer. Es heißt, das Universum sei etwas derartig Hehres, daß niemand es sehen könne, wie es sei, sondern nur, wie es gewesen sei, genau wie ich, als ich Autarch war, den jetzigen Zustand unsrer Republik nicht wissen konnte, sondern lediglich die Zustände, die herrschten, als die gelesenen Berichte verfaßt wurden. Aus dieser Sicht war denkbar, daß die Sterne, die ich sah, nicht länger da waren – daß die Eindrücke meiner Augen jenen Berichten glichen, die ich fand, als wir die Gemächer öffneten, die einst dem Autarchen gehört hatten im Großen Turm.
    In der Mitte dieser Sternenscheibe glaubte ich zunächst einen blauen Stern zu sehen, der alle andern an Größe und Helligkeit übertraf. Ich konnte sehen, wie er noch mehr wuchs, und erkannte bald, daß er näher sein mußte als vermutet. Das vom Licht angetriebene Schiff übertraf die Lichtgeschwindigkeit, wie die vom Wind getriebenen Schiffe auf den rauhen Meeren der Urth einst den Wind an Geschwindigkeit übertrafen, wenn sie hart am Wind segelten. Dennoch konnte der blaue Stern nicht weit entfernt sein; und wäre es wirklich irgendein Stern, wären wir verloren, denn wir steuerten geradewegs auf ihn zu.
    Größer und immer größer wurde er, und durch seine Mitte verlief eine gekrümmte schwarze Linie, gekrümmt wie die Klaue – die Klaue des Schlichters, wie sie mir erschienen war, als ich sie zum ersten Mal sah, als ich sie aus meiner Schwerttasche zog und mit Dorcas zum Nachthimmel hochhielt und den blauen Glanz bestaunte.
    Obwohl der blaue Stern, wie gesagt, unentwegt wuchs, wuchs die geschwungene Linie schneller, bis sie die blaue Scheibe (denn eine Scheibe war

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