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Die Urth der Neuen Sonne

Die Urth der Neuen Sonne

Titel: Die Urth der Neuen Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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großen Riß im Rumpf, wo ein Mast gestanden hatte; beim Herausströmen wurde sie sichtbar, Geist eines Titanen, von Abermillionen winziger Lichter glänzend. Diese Lichter fielen wie Schnee – schwebten langsam herab, allerdings nicht langsamer, als ein Mensch geschwebt wäre – und machten das gewaltige Deck frostfunkelnd weiß.
    Abermals stand ich vor Meister Ashs Fenster und vernahm seine Stimme: »Was du siehst, ist die letzte Eiszeit. Die Sonnenoberfläche ist jetzt glanzlos; bald wird sie wieder erstrahlen vor Hitze, aber die Sonne selbst wird schrumpfen und somit ihren Welten weniger Wärme spenden. Wenn schließlich jemand käme und auf dem Eis stünde, sähe er die Sonne nur als hellen Stern. Das Eis, worauf er stünde, wäre nicht das gleiche, das du nun siehst, sondern die Atmosphäre dieser Welt. Und so wird es sehr lange Zeit bleiben. Vielleicht bis zum Ende aller Tage.«
    Mir war, als stünde er abermals neben mir. Selbst als das nahe Takelwerk mich wieder zur Besinnung brachte, war es, als flöge er bei mir, als hallten mir seine Worte in den Ohren. Er war verschwunden an jenem Morgen, als wir in eine Schlucht in Orithyia stiegen, als ich ihn zu Mannea von den Pelerinen gebracht hätte; auf dem Schiff erfuhr ich, wie er entschwunden war.
    Ich erfuhr auch, daß ich den falschen Mast erwischt hatte. Falls das Schiff zwischen den Sternen steckenbliebe, wäre es höchst unwichtig, ob Severian, der einstige Foltergeselle und Autarch, am Leben bliebe oder stürbe. Anstatt mich festzuhalten, als das Takelwerk in Reichweite kam, wirbelte ich herum und sprang abermals, diesmal zum Mast, den die Gierer hielten.
    So oft ich auch versuchen mag, diese Sprünge zu beschreiben, es wird mir nie gelingen, das Wunder und das Grauen einzufangen, das sich damit verbindet. Man springt wie auf Urth – aber der erste Moment dehnt sich aus zu einem Dutzend Atemzügen wie bei einem Ball, den Kinder werfen; nach dem ersten Verzücken weiß man, daß man, sollte man alle Schoten und Spieren verfehlen, so dem Untergang geweiht wäre – als fiele der Ball ins Meer und wäre für immer verloren. Dies alles empfand ich, während ich sprang und während ich die Vision der Eiswüste noch vor Augen hatte. Und dennoch hatte ich die Arme vor mich gestreckt und die Beine hinter mir und fühlte mich weniger als Ball, denn als magischer Taucher der Sage, der tauchte, wo er wollte.
    Lautlos und ohne Vorwarnung erschien ein neues Tau vor mir im Raum zwischen den Masten, wo kein Tau hätte sein sollen – ein Tau aus Feuer. Ein zweites überkreuzte es und ein drittes; und dann waren sie verschwunden, während ich die Leere durchmaß, die sie erfüllt hatten. Die Gierer hatten mich also erkannt und schossen auf mich von ihrem Mast.
    Es ist selten ratsam, sich einem Feind lediglich als Zielscheibe zu präsentieren. Ich riß meine Pistole aus dem Halfter und zielte auf die Stelle, von der der letzte Schuß abgegeben worden war.
    Viel weiter vorn schilderte ich, wie mich, als ich im dunklen Gang vor meinem Gemach mit dem toten Steward zu meinen Füßen stand, die winzige Ladungsanzeige am Verschluß meiner Pistole erschreckt hatte. Nun erschreckte sie mich abermals, denn als ich den Abzug drückte und einen kurzen Blick darauf warf, leuchtete sie nicht.
    Ebensowenig zuckte im nächsten Moment ein Energiebündel auf. Wenn ich so gescheit gewesen wäre, wie ich zuweilen den Eindruck erweckte, so hätte ich die Pistole wohl weggeworfen. In Wirklichkeit aber steckte ich sie gewohnheitsmäßig ins Halfter zurück und registrierte dabei einen andern Feuerstrahl, den nächsten von allen, erst als er vorbei war.
    Dann blieb keine Zeit mehr zum Schießen oder Erschossenwerden.
    Die Taue der Takelung erhoben sich zu beiden Seiten, und da ich mich noch im unteren Teil befand, waren sie dick wie die Stämme stattlicher Bäume. Vor mir sah ich das Tau, an dem ich mich festhalten müßte, und darauf einen Gierer, der daran entlanglief, um die Stelle zu erreichen. Zuerst hielt ich ihn für einen Menschen wie mich, obwohl er ungewöhnlich groß und stark wirkte; dann – und all dies in viel weniger Zeit, als es dauert, dies niederzuschreiben – sah ich, daß er kein Mensch war, konnte er sich doch mit den Füßen irgendwie ans Tau klammern.
    Er streckte mir die Hände entgegen wie ein Ringer, der auf seinen Gegner gefaßt ist, und die langen Klauen an den Enden glänzten im Sternenschein.
    Er hatte sich bestimmt überlegt, dessen war ich mir sicher, daß

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