Die Vagabundin
den Bettrand und griff nach ihrer Hand. «Dabei hätt ich mein Hemd verwetten können, dass du Scholar bist. Du schaust so – so gelehrt aus. Und wie jemand, der keine Heimat kennt. Schon auf der Gass vorher hast so verloren ausgesehen.»
Eva spürte, wie ihr die Augen zu brennen begannen.
«Warum bist du so traurig?», fragte Resi leise. Da begann Eva zu weinen.
Zärtlich zog das Mädchen sie an sich, strich ihr beruhigend über den Rücken und durchs Haar und murmelte dabei ein ums andre Mal, wie eine Mutter zu ihrem kleinen Kind: «Nicht weinen, nicht mehr weinen. Es ist doch alles gut.»
Doch das machte es nur noch schlimmer. Bald zitterte Eva am ganzen Körper, sie wusste gar nicht, woher all die Tränen kamen.
«Es ist alles gut», wiederholte Resi, während sie sich der Länge nach neben ihr ausstreckte und sie in die Arme nahm. «Du kannst heut Nacht auch bei mir bleiben.»
Eva fühlte durch das Tuch hindurch die tröstliche Nähe dieses festen, warmen Körpers, der sich bald enger und enger an sie schmiegte, sie spürte die Hand, die unter dem Tuch auf ihrer nackten Haut den Rücken hinunterwanderte, spürte die Lippen auf ihren Wangen, die ihr die Tränen wegküssten, und dann, plötzlich, wie Resis Zunge fordernd und zärtlich zugleich Einlass zwischen ihren Lippen suchte und auch fand. Eva stöhnte leise auf, dann stieß sie Resi von sich. Ihr Herz raste.
«Lass das!»
Das Mädchen starrte sie mit aufgerissenen Augen an. «Spinnst jetzt?»
«Du – du kannst nichts dafür», stammelte Eva. Sie sprang aus dem Bett, rannte zur Tür, die Treppe hinunter, mitten hindurch durch die halbnackten Badegäste, zerrte ihre Sachen aus dem Wandregal, kleidete sich in fieberhafter Eile an, rannte die Treppe mit ihren beiden Bündeln unterm Arm wieder hinauf – und prallte im Eingangstor mit Resi zusammen.
«Da verreck!», flüsterte das Mädchen, «du bist gar kein Kerl, Adam und Eva! Du bist ein elender Zwitter!»
«Geh mir aus dem Weg!»
Als Eva draußen auf der Gasse stand, dunkelte es bereits. Nur wenige Menschen waren unterwegs. Ihr Herz schlug noch immer bis zum Hals, ihre Lippen brannten. Was war das nur gewesen? Wie hatte sie das geschehen lassen können?
«Geh zum Stadellman, gleich neben der Kirche», hörte sie Resi hinter sich rufen. «Der kauft dir deine Kleider ab. Mit einem Gruß von mir.»
34
Der kräftige, kalte Wind bewies, dass der Herbst endgültig Einzug gehalten hatte. Eva folgte dem gewundenen Bachlauf in Richtung der kleinen Mühle, in deren Schutz sie ihre erste Rast einlegen wollte. Vielleicht bekam sie dort ja auch etwas Brot und Milch. Danach wollte sie sich wieder in den Strom der Reisenden auf der Nürnberger Straße einreihen, die hier hoch über dem Flusstal verlief.
Bei besagtem Stadellman, einem mürrischen Krämer, war sie ihre Kleider tatsächlich losgeworden – zu einem miserablen Preis allerdings. Dafür hatte sie im Haus des Mannes, auf einerStrohschütte unter der Treppe, übernachten dürfen. Doch die meiste Zeit der Nacht hatte sie wach gelegen. So war sie schließlich noch vor Sonnenaufgang aufgestanden und losmarschiert. Um das Badhaus hatte sie einen großen Bogen gemacht und war erleichtert, als der Marktflecken endlich außer Sichtweite war.
Obwohl sie erst ein, zwei Stunden gegangen war, ließen die Anstrengungen der letzten Tage ihr die Beine schwer wie Blei werden. Zu ihrer Enttäuschung war die Mühle verlassen, Haustür und Fenster hatte man mit Brettern vernagelt. Dennoch hörte sie Stimmen. Sie folgte dem Gemurmel und fand auf der Rückseite des Hauses, auf einer verwitterten Gartenbank, zwei Wandergesellen mittleren Alters. Dass sie auch zünftig waren, verrieten ihre Ohrringe.
Eva schwankte, ob sie sich nicht besser still und heimlich aus dem Staub machen sollte, denn fürs Erste hatte sie genug von irgendwelchen Bekanntschaften. Aber es war zu spät, der Kleinere der beiden hatte sie entdeckt.
«Nur herangetreten, junger Freund. Wir beißen nicht, und wir schießen nicht.»
Sie wunderte sich zwar über die gestelzte Sprechweise, ansonsten aber wirkte der Mann mit dem von aschblondem Haar fast zugewachsenen Gesicht vertrauenerweckend. Vielleicht lag das an dem klaren Blick aus seinen hellen, freundlichen Augen. Trotzdem wollte sie auf der Hut sein und nicht mehr von sich preisgeben als nötig.
«Gott zum Gruße», sagte sie. Mit knurrendem Magen sah sie auf die Brotzeit, die die beiden zwischen sich auf der Bank ausgebreitet hatten. «Habt
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