Die Vagabundin
er ganz richtig.
Nur wenige Tage nämlich war es her, dass die letzten Pesttotenin der Grube verschwunden, die Häuser und Ställe mit allerlei Räucherwerk gereinigt worden waren und dass der Stadtarzt die Seuche für gebannt und besiegt erklärt hatte. Viel zu langsam füllte sich die Stadt jetzt wieder mit Leben, und jeder, der gesund und zur Arbeit fähig war, wurde herzlich willkommen geheißen.
Der Torwart hatte ihr den Weg zur Zunftherberge gewiesen, einem schmalen Steinbau gleich hinter dem neuerbauten Rathaus. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als der Herbergsvater ihr öffnete und sie ihn mit der Formel begrüßte, die Leichtermut ihr eingeschärft hatte: «Glück herein, Herr Vater, Gott ehre unser Handwerk!»
Der hagere Mann antwortete ihr in derselben Weise, dann führte er sie in die Trinkstube, wo an groben Tischen einige Männer vor ihren Tonkrügen hockten. Die Männer nickten ihr zu, während der Herbergsvater sie der Obhut des Altgesellen übergab, um wieder in seiner rauchigen kleinen Küche zu verschwinden. Von dort duftete es verführerisch nach gebratenen Eiern und Speck.
Kurz entschlossen zog Eva ihr Heft mit dem Gesellenbrief aus der Tasche und legte es auf die Tischplatte. Der Altgesell, ein Mann, dessen pockennarbiges Gesicht aussah, als habe der Teufel Erbsen darauf gedroschen, warf nur einen flüchtigen Blick darauf.
«Suchst du Arbeit, oder ziehst du weiter?», fragte er.
«Arbeit», entgegnete Eva. «Für zwei, drei Wochen vielleicht. Dann will ich weiter.»
«Hm.» Der Mann schien nachzudenken. Noch bevor er wieder das Wort ergriff, brachte der Herbergsvater zwei Krüge Bier und eine Platte mit Speckeiern und Brot. Eva konnte es kaum fassen: Einem zünftigen Gesellen stand wahrhaftig das Schlaraffenland offen!
«Morgen früh bring ich dich zu Meister Weigl.» Der Altgesell wischte sich das Bratfett aus dem Mundwinkel. «Dem ist während der Seuch’ sein Lehrknecht auf und davon. Bis er einen neuen hat, wird er dich gut brauchen können.»
So wohnte und arbeitete Eva die nächsten zwei Wochen bei Meister Weigl in der Kirchgasse, schlief auf der Bank in der Stube, die zugleich als Werkstatt diente, und erhielt acht Kreuzer auf die Woche. Als Weigl schließlich seinen neuen Lehrknecht unter Vertrag nahm, zog sie weiter. Alle kleineren und größeren Städte der Umgegend klapperte sie nach und nach ab, und kam es vor, dass sie als Fremdgeselle einmal keinen Meister fand, ließ sie es sich für ein, zwei Tage und Nächte bei den Zünften gutgehen und versuchte es anderswo.
Wie angenehm, dass ihr überall Tür und Tor geöffnet waren! Dem warmen und trockenen Sommer nämlich war ein feuchtkalter, stürmischer Herbst gefolgt, der einem das Wandern von Dorf zu Dorf so recht zur Qual gemacht hätte. Eva hingegen musste sich nur noch auf den Weg machen, wenn es gar nicht anders ging. Die allermeiste Zeit hatte sie ein Dach über dem Kopf und stand in Lohn und Brot. Mal wohnte sie beim Meister selbst, mal in den Gesellenherbergen, immer aber hatte sie es trocken und warm in dieser ungemütlichen Jahreszeit, und die tägliche Kost war üppig wie nie. Einzig die strengen Regelwerke, denen sie fürderhin unterworfen war, stießen ihr mitunter sauer auf. Schlimmer noch als der gestrenge Meister spielten sich oftmals die Altgesellen auf, die sich in den Zunftherbergen als Wächter und Wärter fühlten, als Hüter von Zucht und Ordnung. Ums Haar wäre Eva einmal wegen eines herzhaften Fluches ihr Wochenlohn abgenommen worden.
Aber alles in allem konnte sie nicht klagen. Die Stunden und Tage vergingen mit zumeist angenehmer Arbeit, nur seltenmusste sie Handlangerdienste leisten, wie sonst die Fremdgesellen, die schon froh waren, wenn sie maßnehmen oder vorstechen durften, statt immerfort die Stube zu kehren. Nein, sie wurde, da die Meister rasch ihre Begabung erkannten, auch an die ehrenvolle Aufgabe des Zuschneidens gelassen. An die edelsten Stoffe durfte sie Hand anlegen: an Samtgewebe aus Venedig, Damast aus Damaskus, Baldachin aus Bagdad. Dazu Wollstoffe aus den Niederlanden, in teurem Scharlachrot oder mit Gold und Perlen bestickt. Und sie lernte eine Menge hinzu an Schneiderkunst und Warenkunde. Eigentlich hätte sie sich rundum glücklich schätzen können – wären da nicht die Erinnerungen an Moritz gewesen, die sie Nacht für Nacht quälten.
Mitte November schließlich landete sie in Sinzing, einem Flecken zwischen Hopfen- und Weingärten, dort, wo die Schwarze Laber in den
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