Die Vagabundin
von einer Leichtigkeit, wie sie es lange nicht mehr erlebt hatte – zumindest in der ersten Woche ihrer Nördlinger Zeit. Der Zunftvorgeher selbst dingte sie in seiner Werkstatt, wo er noch zwei Gesellen und einen Lehrjungen beschäftigte. Eva bekam die Aufgabe übertragen, Umhänge zuzuschneiden und die Stoffe und Werkzeuge ordentlich zu halten. Auch wenn ihr das wie Kinderkram vorkam, hätte sie niemals zu murren gewagt, denn Sick wie auch seine Frauund die beiden Töchter begegneten ihr nie anders als in fürsorglicher Freundlichkeit. Und mit den altgedienten Gesellen wollte sie es sich schon gar nicht verderben, für die kurze Zeit, die sie hier war.
Die Mahlzeiten nahm sie bei den Schneidern und Tuchscherern im
Sternen
ein, zum Übernachten ging sie weiterhin ins
Goldene Rad
. Dort hockte sie bis spät abends mit ihren Herbergsgenossen und einem stets gefüllten Weinschlauch zusammen, Schwänke und Witze machten die Runde, vor allem von Evas Seite aus, bis irgendwann der Altgeselle ein Machtwort donnerte und alle ins Bett scheuchte.
Sonn- und feiertags besuchte man gemeinsam die Pfarrkirche, wo seit vielen Jahren schon das Sakrament in beiderlei Gestalt gereicht wurde, in Wein und in Brot, und der Pfarrer das neue, reine Evangelium predigte. Danach schlenderten sie in kleinen Gruppen durch die Gassen oder kehrten in einer Schenke ein; jeder, der ihnen begegnete, grüßte Eva, alle schienen sie zu mögen. Bald kannte sie jeden Winkel in dieser lebhaften Stadt, die sich kreisrund um Kirche und Rathaus zog. Wie die Strahlen eines Sterns gingen von hier die fünf Straßen durch die fünf Tore in alle Himmelsrichtungen hinaus, führten als bedeutsame Handelswege nach Ulm, Augsburg und Nürnberg, in die Junge Pfalz und hinüber ins Wirtembergische.
Der einzige Wermutstropfen war, dass sie nicht mit hinausdurfte, in die Nachbardörfer, an die Ufer von Eger und Kornlach, wo sich Jung und Alt zum kalten Bad trafen, oder in die Obstwiesen, wo die ersten saftigen Birnen lockten. Aber letztlich war ihr das gleichgültig, bald würde sie ohnehin auf immer die Stadt verlassen. Von Beginn an hatte sie die Tage gezählt, die sie von ihrem Wiedersehen mit Moritz trennten. Dazu ritzte sie mit ihrem Brotmesser heimlich Striche in die Diele unter ihrem Bett.
Die Zeit verging wie im Flug mit diesem Wechsel aus Arbeit und freien Stunden, aus geselligen Mahlzeiten und langen, weinseligen Abenden in der Herberge. Je mehr Striche sich allerdings unter ihrem Bett ansammelten, desto unruhiger wurde Eva. Um keinen Preis nämlich wollte sie in Oettingen als Schneiderknecht auftauchen, das hatte sie sich geschworen. Doch die Zunftherren hielten sich an ihre Abmachung, ihr keinen Lohn auszubezahlen, und so besaß sie keinen einzigen Heller, um Weibskleider zu erstehen. Dabei blieb ihr nicht mehr viel Zeit, bald schon würde der Bote von seiner Reise zurück sein.
An einem Samstag Anfang September beschloss Eva, aus Nördlingen zu verschwinden. Seit einigen Tagen schon lastete auf ihr eine böse Vorahnung: Mit der Rückkehr des Stadtboten würde sich über ihr ein Unwetter zusammenbrauen, dem sie nicht gewachsen sein würde. Sie war nicht allzu abergläubisch, aber seit Tagen sammelten sich auf dem Dach ihrer Herberge mehr und mehr schwarze Rabenvögel, und sie hatte schon drei Mal in der Dämmerung Fledermäuse aufgestöbert. Dann, an jenem Samstagmorgen, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Sie hatte bei der Schilderung ihres Überfalls schlichtweg übersehen, dass sie diesem Eisenkrämer ein Paar Schuhe gestohlen hatte! Da würde keine Ausrede etwas nutzen, schon gar nicht vor diesem strengen Amtsbürgermeister. Wie kreuzdumm war sie gewesen! Jetzt blieb ihr nur noch die Hoffnung, dass Moritz zurück in Oettingen war, sonst war ihr Ende als gemeine Diebin besiegelt.
Ungewohnt schweigsam nahm sie an diesem Morgen ihren Milchbrei zu sich.
«Was ist?», fragte Hannes, einer der Schneiderknechte, mit dem sie sich ein wenig angefreundet hatte. «Machst ausgerechnet heut schlapp?»
«Was meinst du damit?»
«Weil wir doch heut freihaben. Badetag! Hast das vergessen?»
Daran hatte sie nicht mehr gedacht.
«Ach ja», sagte sie lahm. «Wann gehen wir los?»
«Gleich nach dem Morgenessen.»
Eva dachte fieberhaft nach. Das war vielleicht nicht die schlechteste Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen. Bekanntermaßen arteten die Badhausbesuche der Handwerker jedes Mal in ein rechtes Saufgelage aus. Da würde es, fürs Erste
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