Die Vagabundin
verstummen –, «indessen sei ihr, Gott zu Gefallen, durch das hohe Gericht Milde und Gnade gewährt, aufgrund ihrer Jugend und ihres kränklichen Zustands und insbesondere der mannigfachen Fürsprache etlicher unserer Bürger: allen voran der ehrwürdigen Handelsherren Hans Husel und Jeronimus Frickinger nebst den Zunftmeistern der Stadt sowie zahlreicher Edelleute der Umgegend, allen voran der Edle und Feste Moritz von Ährenfels. So wird denn Eva Barbiererin hiermit und endlich vom Wasser zum Schwert begnadigt.»
Etlichen Frauen und selbst Männern rannen vor Erleichterung die Tränen übers Gesicht. So auch der frommen Schwester in graubrauner Tracht und dem jungen Edelmann, die einanderfest bei der Hand hielten und sich jetzt in den endlosen Strom hinaus zur Hinrichtungsstätte einreihten.
Fast lautlos bewegte sich der Zug zur Stadt hinaus, durch das Reimlinger Tor hin zum Rabenstein, gleich an der Straße nach Augsburg. Kein Kreischen, kein Grölen war zu hören, wie sonst bei solchen Spektakeln. Im Gegenteil: Gemessenen Schrittes, wie bei einer feierlichen Prozession, begleitete man die Delinquentin auf ihrem letzten Weg, und nicht wenige murmelten leise ein Gebet.
Als Eva den Rabenstein, die mannshohe, kreisrunde, aus Stein gemauerte Richtstatt, bestieg, erwartete sie oben bereits Meister Endris Franck, Henker zu Nördlingen, das Schwert in beiden Händen. Sie kniete nieder. Suchend schweiften ihre Augen über die Menge, bis sie Josefina und Moritz fand, in vorderster Reihe, gleich neben den Ratsherren. In diesem Augenblick riss der regenverhangene Himmel auf, die Sonne brach durch das dunkle Grau, und ein Regenbogen ließ seine Farben leuchten. Sein mächtiges Halbrund schien die ganze Welt zu umspannen, und Eva begann zu lächeln. Jetzt bist auch du bei mir, kleiner Bruder, dachte sie. Sitzt dort oben und begleitest mich auf meiner letzten Reise.
Als das Richtschwert sich hob, sah Eva, wie Josefina die Hände zum Gebet faltete und Moritz zu ihr aufschaute, dann versank ihr Blick für immer in den dunkelgrünen, weit aufgerissenen Augen des Geliebten.
Nachtrag der Autorin
Das Motiv des als Mann verkleideten Weibes war und ist ein beliebtes Thema der Literatur. Doch auch in der historischen Realität, gerade in der Epoche der Frühen Neuzeit, trifft man immer wieder auf Frauen, die sich Männerkleider überstreiften, um ein freieres Leben führen zu können. Manche hielten dieses Leben über Jahre hinweg durch, und auch die historische Eva Barbiererin schaffte dies über eine lange Zeit, bis ihr «Possenspiel» schließlich entdeckt wurde. Oftmals wurde ein solcher Betrug, selbst bei einer vollzogenen Heirat, «nur» mit einer sogenannten Ehrenstrafe geahndet (etwa mit dem Pranger und anschließendem Stadt- bzw. Landesverweis), zumindest nach den offiziellen Prozessordnungen. Grund für diese vermeintliche Milde: Da der Frau eine eigene Sexualität gar nicht zugestanden wurde, vermuteten die Richter dahinter keineswegs eine sexuelle Verfehlung (selbst erotische Zärtlichkeiten unter Frauen wurden schlichtweg ignoriert), wohl aber einen Beweis der Verdorbenheit und vor allem: eine schändliche Täuschung und Arglist. Schließlich stand der Mann über der Frau, und Frauen, die sich als Männer ausgaben, machten sich in betrügerischer Weise männliche Vorrechte zu eigen.
Aus diesem Grund versuchten die Richter nicht selten, solchen Frauen weitaus schlimmere Delikte nachzuweisen, wie auch im Fall der Eva Barbiererin. Die lange Kerkerhaft, die Verhöre und schließlich die Folter hatten sie so zermürbt, dass sie sich schließlich nur noch in Widersprüche verwickelte und amEnde alles Mögliche zugab. So auch Straßenräuberei, worauf für Frauen Tod durch Ertränken stand. Außergewöhnlich in ihrem Fall ist allerdings, dass sie aufgrund zahlreicher Fürbitten zu dem sehr viel gnädigeren und ehrenvolleren Tod durch das Schwert verurteilt wurde.
Der Prozess sowie zahlreiche Fakten zu ihrem Leben sind im Nördlinger Stadtarchiv erstaunlich gut dokumentiert, zumal durch die detailreiche Aufarbeitung des Historikers und Stadtarchivars Dr. Gustav Wulz. Ich folge dabei seiner Einschätzung, dass Eva die ihr zur Last gelegten Gewaltverbrechen niemals begangen, sondern nur unter dem Druck der Folter gestanden hatte – tatsächlich nämlich konnte ihr zweifelsfrei nichts anderes nachgewiesen werden, als dass sie ein «unehrenhaftes Leben» geführt hatte.
Eines schimmert durch sämtliche historischen
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