Die Vagabundin
ihrem Haus in der Löwengrube, einem einfachen Handwerkerviertel mit ungepflasterten Gassen und stinkenden Abortgruben an jeder Ecke. Schief und schmal, eingeklemmt zwischen einer Schmiede und dem dreistöckigen Haus eines Rotgerbers, schien das verwitterte Holzhäuschen nur durch die beiden Nachbargebäude am Umfallen gehindert. Wie die ärmlichsten Häusler auf dem Dorf lebten sie hier: Im Erdgeschoss befand sich ein einziger Raum, der als Wohnstube und im hinteren Bereich, zum Hof hin, als Küche diente, Vaters Schlafecke hatten sie mit einem Vorhang abgetrennt. DieBöden waren aus festgestampftem Lehm, die Fenster klein und unverglast, und im Winter, wenn die Holzläden geschlossen waren, erstickten sie schier im Rauch und in den eigenen Ausdünstungen.
Neben der Tür zum Hof führte eine steile Stiege nach oben auf die Bühne. Dort, zwischen Gerümpel, in dem des Nachts die Mäuse rumorten, schliefen auf einer breiten Strohmatte Eva und Niklas – und bis vor zwei Monaten auch Josefina. Wenn Eva an ihre Schwester dachte, nagte fast so etwas wie Neid an ihr. Um wie vieles besser hatte Josefina es doch getroffen! Sie hatte ein Glück, das Eva wohl nie vergönnt sein würde: Sie wohnte tatsächlich drüben in der stolzen, alten Bischofsstadt, wo die berühmten Passauer Gold- und Klingenschmiede ihre Werkstätten und die Handelsherren ihre prachtvollen Häuser hatten. Ebendort, am Residenzplatz, hatte Josefina ganz plötzlich eine Stellung als Dienstmagd gefunden, mit vier Gulden auf Walpurgis, vier auf Michaelis. Keiner hatte damit gerechnet, dass sie so schnell außer Haus gehen würde – und vor allem eine Anstellung finden würde. Aber ein Mädchen wie Josefina nahm man gerne zu sich, schön und gut gewachsen, wie sie war, mit ihrem blonden, dichten Haar, den hellblauen Augen und dem runden Mund mit feingezeichneten, vollen Lippen. Obendrein hatte Josefina ein freundliches Wesen, und fix im Denken war sie auch.
Eva machte sich nichts vor: Gegen ihre Schwester wirkte sie selbst wie ein ungelenker Knabe. Ihr Körper hatte so gar nichts von den anmutigen Rundungen eines Weibes, viel zu eckig war alles, zu schmal die Hüften, und ihr Busen, der vor einem Jahr zu wachsen begonnen hatte, würde wohl auf ewig so klein und mickrig bleiben. Die Statur hatte sie von ihrer Mutter geerbt, und auch die dunkelbraunen Haare, deren Krauslocken sich in alle Richtungen bogen, und das schmale Gesicht. Das einzigBesondere an ihr waren vielleicht die tiefblauen Augen, die in auffallendem Gegensatz zu ihrem dunklen Haar standen.
Und dann – ihr Name! Noch allzu gut erinnerte sie sich an die wortgewaltige Predigt des Pfarrers in ihren letzten Tagen in Glatz: Wie hatte der über die Sünde der Wollust gegiftet und vor der Gefährdung des Mannes durch das Weib gewarnt! Mit Eva sei die Todsünde in die Welt gekommen, mit Eva als erster Sünderin und Betrügerin am Mann. Allein deshalb müsse die Frau dem Manne untertan sein, sich von ihm leiten lassen und auf immer ihre Zunge hüten, müsse als Sühne die Schmerzen im Kindbett ertragen. Immer mehr war Eva bei diesem geistlichen Donnerwetter in sich zusammengesunken. Da war es ihr wenig Trost gewesen, zu hören, dass immerhin auch dem Weibe eine unsterbliche Seele zugestanden wurde, die Erlösung erlangen könne, sofern sich die Frau von ganzem Herzen in Tugend übe.
Inzwischen fragte sie sich, ob ihre Schwester damals dieser Predigt mit derselben Angst gelauscht hatte – jetzt, wo Josefina zu einer jungen Frau geworden war, glich sie dem Bild der ersten Frau auf Erden immer mehr.
Eva zog die knarrende Tür hinter sich zu und gab Niklas einen Klaps: «Zur Strafe hilfst mir jetzt beim Aufräumen. Und dann gehn wir auf den Markt.»
An diesem Abend erschien ihr Vater überraschend gut gelaunt zum Essen. Sogar ein Lächeln zeigte sich auf dem sonst so vergrätzten Gesicht, als er den Kräuterduft von Evas Gemüsesuppe roch. Da fiel es ihr ein: Es war Samstag, Lohntag.
«Hier, für die Einkäufe.»
Schwungvoll warf er eine Handvoll Münzen auf den Tisch. Eva verzog das Gesicht. Für die zehn Kreuzer bekam sie nicht mal ein Vierpfünderbrot. Und eines war so sicher wie das Amenin der Kirche: Heute würde er die halbe Nacht in der Schenke bleiben und dabei den Großteil des Verdienstes gleich wieder versaufen und verspielen. Dennoch schwieg sie. Sie wollte sich den Tag nicht verderben, der sich mit dem Bauernmarkt noch als ein wahrer Segen erwiesen hatte. Sie und Niklas waren
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