Die Vagabundin
Vorräte anzurühren, so erschöpft fühlte sie sich plötzlich. Fast augenblicklich schlief sie ein, mit dem tröstlichen Duft nach frischem Gras, Honig und Zimt in der Nase.
Sie erwachten von dem Geräusch knarrender Wagenräder, das von der nahen Landstraße herüberdrang. Eva wunderte sich,wie lange sie geschlafen hatten, denn die Sonne stand bereits recht hoch am Himmel.
«Jetzt hab ich Hunger», sagte sie und breitete ihre Schätze vor sich aus: den Schinken und das Brot, dazu von Niklas noch einige Äpfel, halb zerkrümelte Kuchenränder und zwei hartgekochte Eier. So reichhaltig war ihr Morgenmahl schon lange nicht mehr ausgefallen. Aber ihr Bruder schüttelte nur den Kopf. «Mir ist übel.»
«Du wirst doch nicht krank? Gütige Mutter Gottes, du darfst jetzt bloß nicht krank werden!»
Schmerzvoll verzog Niklas das Gesicht und hielt sich den Bauch. Da begriff Eva: Niklas hatte sich am Vortag schlichtweg überfressen! Beinah musste sie lachen.
«Das geht vorbei. Hier, trink von dem Wein, der Hunger kommt von allein.»
Eine halbe Stunde später machten sie sich auf den Weg. Eva wusste: Sie waren weiter entfernt von ihrem Ziel denn je, doch sie wollte sich nicht entmutigen lassen. In sicherem Abstand folgten sie einer Gruppe von Knechten und Mägden. Die schmale Straße schlängelte sich durch eine Hügellandschaft, die viel lichter und freundlicher wirkte als der bairische Nordwald. Jetzt schmückten sich die Magerwiesen rundum mit den gelben, blauen und weißen Blütenglocken der Kuhschelle, dazwischen leuchtete purpurrot das Knabenkraut.
Eva hatte ihren kleinen Bruder angewiesen, sich auf keinerlei Gespräche mit Fremden einzulassen, am besten solle er ganz den Mund halten. Zudem wollte sie die größeren Städte umgehen. Allzu sehr fürchtete sie, wieder irgendwelchen Blutsaugern und Bösewichtern auf den Leim zu gehen. Was sie stattdessen vorhatte, war, die kleinen Flecken und Dörfer rechts und links der Landstraße aufzusuchen, um dort gegen ein Almosen zu singen. Schließlich hatte sie eine begnadete Stimme, wie manihr schon oft genug geschmeichelt hatte. Dazu würden sie vielleicht auch hin und wieder etwas aus den Gärten und von den Feldern stibitzen, wenn sich die Gelegenheit bot. Das dürfte auch für Niklas und seinen kindlichen Gerechtigkeitsglauben keine allzu große Sünde sein.
In der Mittagszeit entdeckten sie den ersten Weiler etwas abseits der Straße. Die Handvoll Häuser lag von einem niedrigen Palisadenzaun umfriedet, dahinter tummelten sich etliche Hühner, Gänse und Schweine.
«Hier wohnen keine Hungerleider», murmelte Eva befriedigt und gab Niklas Anweisung, ein freundliches Gesicht aufzusetzen. Sie stellten sich dicht an den Zaun. Sofort kam ein alter Mann in dem kurzen, grauen Nestelkittel der Bauern, barfuß und mit nackten Beinen, auf sie zugeschlurft.
«Was wollt ihr?»
«Wir täten gern was singen, wenn Ihr erlaubt», erwiderte Eva höflich.
«Eine Musikantentruppe», gackerte der zahnlose Alte und kratzte sich unter seinem losen Kittel ungeniert am Gemächt. «Das hatten wir schon lang nicht mehr. He, Matthes, Hannes, Kathrin, aufi, aufi! Da will wer für uns singen!»
Eine jüngere Frau mit zwei Knaben kam neugierig näher, und Eva stieß ihren Bruder in die Seite.
«Los, das Trinklied der Scherenschleifer», zischte sie.
Doch sie kamen nicht mal bis zur letzten Strophe. Niemals hätte Eva gedacht, dass Niklas dermaßen falsche Töne von sich geben würde. Aus dem Kreis ihrer Zuhörer, der schnell auf ein gutes Dutzend angewachsen war, drang das erste Gelächter, bald schrie jemand: «Aufhören!», ein anderer: «Haut bloß ab, das hält ja keiner aus!», und der Alte bückte sich gar und streckte ihnen den blanken Hintern zu.
Eva sang schneller, verhaspelte sich in den Worten, schließlichrief ein halbwüchsiger Bursche: «Ich lass die Köter raus, das wird ihnen Beine machen.»
Und wirklich öffnete sich jetzt mit lautem Knarren das Holztor, und zwei struppige Hunde rasten kläffend auf sie zu. Eva zog Niklas fest an sich: «Bleib ruhig stehen, um Himmels willen. Dann beißen sie nicht.»
Dabei zitterte sie selbst vor Angst angesichts der hochgezogenen Lefzen der beiden Biester.
«Ruf die Hunde zurück. Wir gehn ja schon», bat sie den Burschen, der dem Ganzen mit verschränkten Armen zusah.
«Am besten auf Nimmerwiedersehen.» Er pfiff die Hunde zu sich heran. «Und jetzt verschwindet. Vagantengesindel!»
Unter dem Hohngelächter der Dörfler
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