Die Vagabundin
bis er sich beruhigte. Vinzenz Fettmilch ließ Eva gewähren, ermunterte sie sogar manchmal, weiterzumachen, wenn Niklas eingeschlafen war. Überhaupt zeigte er sich erstaunlich friedfertig, solange sie sich still in ihr Schicksal fügten.
In der dritten Nacht lagen sie wieder, mit den Füßen aneinandergebunden, auf ihrer inzwischen grauenhaft stinkenden Strohschütte und versuchten, in den Schlaf zu finden. Da hörte Eva irgendwann die beiden Fettmilchs miteinander flüstern. In der Stille der Nacht verstand sie jedes Wort.
«Was machen wir eigentlich mit dem kleinen Bettseicher?» Das war Eusebias Stimme.
«Wieso? Der ist doch ein gutes Faustpfand. Keine der Metzen will, dass ihm ein Leid geschieht, also halten sie das Maul.»
«Ich mein, in Nürnberg.»
«Hab ich noch nicht drüber nachgedacht. Aber du hastrecht, da ist er uns nur im Weg. Wir sollten ihn vorher loswerden.»
Eusebia kicherte leise. «Die Wasser der Altmühl wären tief genug!»
Am liebsten hätte Eva laut geschrien in ihrer Not. Wie konnte Gott so viel Boshaftigkeit zulassen? Waren sie nicht genug gestraft? Und wenn einer gestraft gehörte, dann sie selbst. Lieber Herrgott im Himmel, verschone Niklas, flehte sie in ihrem Innern. Ich weiß, ich hab vielmals gesündigt, aber schenk mir nur noch ein einziges Zeichen deiner Güte, beschütze meinen kleinen Bruder, um Jesus Christus willen!
Als Niklas sie erschrocken mit der Schulter anstieß, merkte sie, dass sie laut zu schluchzen begonnen hatte.
Mit einem heftigen Ruck hielt der Wagen an. Eva schreckte aus ihrem Dämmerzustand. Die Sonne stand schon tief und erreichte mit ihren Strahlen fast ihr Lager. Mehrere Männerstimmen waren zu hören, dazwischen die von Eusebia. Es klang, als sei man sich nicht einig über die Weiterfahrt.
«Was ist los, Weib?» Vinzenz Fettmilch richtete sich stöhnend neben Eva auf und kroch in Richtung Kutschbock. «Keinen Mucks, ich warn euch», zischte er noch, dann kletterte er neben seine Schwester.
«Jetzt stell dir vor», schimpfte Eusebia, «da wollen die von uns eine Brückenmaut über zwölf Pfennige, dabei ist hier nichts als ein dreckiger Acker! Oder siehst du irgendwo einen Fluss?»
«Bist narrisch?», schnauzte Fettmilch. «Gib das Geld raus und halt’s Maul.»
«Genau!», belferte einer der Männer. «Sonst könnt Ihr mit Eurem gschlamperten Wagen gleich wieder umkehren.»
«Kenne ich Euch nicht?» Eva horchte auf. Diese Stimme war ganz jung.
«Bin ich Euch nicht», fuhr dieselbe Stimme fort, «letztes Jahr auf der Hofmark meines Vaters begegnet?»
«Nicht dass ich wüsste», entgegnete Fettmilch mürrisch.
«Ich bin mir aber sicher. So schnell vergesse ich kein Gesicht.»
«Und wer soll Euer Vater sein, bitt schön?», fragte Eusebia schnippisch.
«Herrgott, sei doch still!», zischte Fettmilch.
«Roderich von Ährenfels. Ein Ministeriale des Baiernherzogs Albrecht.»
«Kennen wir nicht, den edlen Herrn.»
«Dann deckt doch mal Eure Plane vom Wagen. Damit wir genauer sehen können, was Ihr so durch die Gegend fahrt.»
«Was soll das?» Eva hörte eine Mischung aus Angst und Wut aus Fettmilchs Stimme heraus. Ihr stockte der Atem. War das ihre Rettung?
«Meint Ihr nicht, Junker Moritz, wir sollten die beiden ziehen lassen? Jetzt, wo sie bezahlt haben?» Das war offenbar der Zöllner, der sich Zeit und Mühe einer genaueren Untersuchung sparen wollte.
«Das denk ich auch.» Fettmilch bekam wieder Oberwasser. «Wir sind ehrenhafte Händler, auf dem Weg nach Nürnberg. Außerdem habt Ihr als bairischer Junker hier auf dem Boden des Pfälzers gar nichts zu sagen.»
«Pass bloß auf, du großgoscherter Lumpensammler!», blaffte jetzt der Zollbüttel. «Ich hau dir gleich meinen Spieß in die Rippen, wenn du vor dem Junker das Maul so aufreißt. Im Namen des Pfalzgrafen und Herzogs Wolfgang von Pfalz-Zweibrücken: Mach sofort die Plane auf!»
13
Eva rieb sich die schmerzenden Handgelenke, auf denen die Fesseln dunkelrote Abdrücke hinterlassen hatten, dann zog sie Niklas in ihre Arme.
«Wir sind gerettet, mein Kleiner», flüsterte sie.
Der Zöllner stand breitbeinig vor ihnen auf der Ladefläche, deren Plane zurückgeschlagen war. Über ihnen leuchtete ein tiefblauer Himmel, von dem die Abendsonne wie zum Hohn über ihre Dummheit lachte. Nie wieder, schwor sich Eva in diesem Augenblick, würde sie auf die Freundlichkeit fremder Leute hereinfallen.
«Ihr brauchts keine Angst mehr haben», sagte der Zöllner. «Und jetzt runter von
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