Die Vagabundin
während er vor dem guten Dutzend Menschen, das ihn umringte, von seinem Abenteuer prahlte.
Eva musste lächeln.
«Ist das dein Bruder?»
«Ja, Herr.»
«Ein netter Kerl. Und die anderen Mädchen – sind das deine Schwestern?»
«Nein, Herr. Ich hab sie unterwegs getroffen.»
«Unterwegs?»
«Ja. Wir waren auf dem Weg nach Straubing, zu unserer Muhme.»
«Straubing! Das ist ja unendlich weit weg von hier. Habt ihr denn keine Eltern?»
«Nein, Herr.»
Der Junker betrachtete sie in einer Mischung aus Erstaunen und Mitleid. Dann bot er ihr den Arm, um ihr auf den Wagen zu helfen – so galant, als sei sie ein Edelfräulein.
«Nimm dir, was dir gestohlen wurde. Und was du sonst noch brauchen kannst», fügte er leise hinzu und zwinkerte verschwörerisch. «Das tut keinem weh.»
Eva brauchte nicht lange, um den Sack zu finden, in dem Niklas’ Schuhe, ihr Mantel und ihre Geldkatze lagen. Dazu nahm sie noch einen kleinen, mit Wein gefüllten Wasserschlauch an sich, den sie unterwegs gut würde brauchen können, und ein Eckchen Schinken samt einem Kanten Brot, die als kläglicher Rest in Fettmilchs Vorratskiste lagen. Mehr wollte sie nicht von all diesem schmutzigen Kram.
Inzwischen waren auch ihre Weggenossinnen auf den Wagen gestiegen und begannen, voller Raffgier in den Kisten und Körben zu wühlen. Angewidert kletterte Eva vom Wagen. Moritz von Ährenfels schien auf sie gewartet zu haben.
«Mir ist da ein Gedanke gekommen», sagte er und wirktenun seinerseits fast verlegen. «Ich nehm dich und deinen Bruder mit nach Neumarkt. Es gibt dort einen Ratsherrn, einen guten Freund von mir. Er wird euch beiden für eine Weile Obdach geben, zumindest so lang, bis ihr euch erholt habt.»
«Liegt dieses Neumarkt auf dem Weg nach Straubing?»
«Nein, gerade entgegengesetzt.»
Sie schüttelte den Kopf. «Dann habt vielen Dank, aber wir müssen nach Straubing.»
Sie wollte davon, Niklas holen, doch der Junker hielt sie zurück.
«Ich kann dich nicht gehen lassen. Es wird bald dunkel.»
Seine grünen Augen sahen sie flehend an.
«Junker Moritz!» Einer der Wächter winkte herüber. «Euer Pferd steht bereit. Wir müssen los.» Dann grinste der Mann breit. «Das Madl da nehmt nur mit, es hat noch Platz auf dem Wagen. Wer hätt gedacht, dass Ihr heut gleich zu vier feschen Madln kommt?»
Hatte Eva eben noch einen Atemzug lang gezögert, so stand ihr Entschluss jetzt fest: Niemals würde sie sich in die Obhut dieser fremden Leute begeben. O nein – das Schicksal hatte sie ein für alle Mal gelehrt, wohin kindisches Vertrauen führen konnte.
«Komm, Niklas!», rief sie. «Wir müssen los.»
Mit einem prallen Tuch voller Proviant schlenderte Niklas auf sie zu. «Fahren wir denn nicht mit den andern?»
«Nein, Igelchen. Das ist die falsche Richtung.»
Sie nahm seine Hand. «Gott schütze Euch», wandte sie sich an Moritz von Ährenfels. Der starrte sie jetzt fassungslos an. Er wirkte plötzlich wie ein enttäuschter kleiner Junge.
«Und wer beschützt dich, außer unserm Herrgott?»
«Ich selbst. Das ist allemal das Beste.» Ihre Stimme zitterte leicht. Vom Kutschbock her trötete ungeduldig ein Horn.
«Dann nimm wenigstens das hier.»
Der Junker zog unter seinem Umhang ein Jagdmesser hervor, und unwillkürlich zuckte Eva zusammen. Die Klinge funkelte in der Abendsonne, in den Knauf aus Horn war ein Wappen eingraviert: drei Ähren über einer gezackten Felsspitze.
«Es ist aus bestem Damaszenerstahl. Und hier – das Lederetui. Bind es dir unter die Schürze; damit es niemand sieht. Drei, vier Ackerlängen bergab findest du einen Unterstand für Jäger, dort seid ihr sicher für die Nacht.»
Eva nickte nur stumm, dann lief sie los.
«Halt, warte doch. Wie heißt du überhaupt?»
Sie war nahe daran zu lügen, dann aber rief sie über die Schulter zurück: «Eva.» Sie würden diesen Mann ohnehin nie wiedersehen.
Als sie mit großen Schritten der Straße hügelabwärts gefolgt waren bis zum Saum eines Wäldchens, wandte Eva sich noch einmal um. Oben, im fahler werdenden Abendlicht, stand Moritz von Ährenfels und sah ihr nach.
«Ich will nicht im Wald schlafen», maulte Niklas. «Und überhaupt: Warum sind wir nicht bei den freundlichen Männern geblieben?»
«Das verstehst du nicht. Und jetzt gib Ruh, da vorn ist schon der Unterstand.»
Als sie es sich auf dem Bretterboden der Hütte einigermaßen bequem gemacht hatten, kauerte sich Eva unter ihrem Mantel zusammen, ohne auch nur ein Krümchen ihrer
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