Die Vagabundin
Gierig schob er sich einen Löffel nach dem anderen in den Mund.
«Wollt ihr über Nacht bleiben? Ein Bett mit zwei Decken wäre noch frei. Ihr müsstet euch aber gleich entscheiden. Bei dem Sauwetter sind die Schlafräume schnell belegt.»
So verführerisch der Gedanke an ein richtiges Bett war, so war sie doch fest entschlossen, ihr Geld für Kleidung und Schuhe aufzusparen. Nicht weit von hier hatte sie nämlich eine einsame Scheune gesehen, etwas abseits der Straße am Feldrand. Das musste als Schlafstätte genügen.
«Nein, danke.»
Fast besorgt sah er sie an. «Es ist dir zu teuer, was? Und wenn ich dir mein Bett überlass? Ganz umsonst, ehrlich.»
«Das ist gut gemeint, aber wir wissen schon, wo wir unterkommen.»
«Schade!»
«Aber hast du vielleicht eine alte Decke gegen den Regen für uns? Wir haben keine Mäntel. Natürlich bezahlen wir dafür», fügte sie hinzu.
Er nickte und verschwand.
«Bist du dumm?», maulte Niklas mit vollem Mund. «Wieso schlafen wir nicht beim Alois?»
«Das verstehst du noch nicht. Iss jetzt, wir müssen weiter!»
Nachdem sie die Schüssel bis zum Boden ausgekratzt hatten, erschien der Wirt mit dem Zahlbrett und bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen: Zwei Weißpfennige musste sie auf den Tisch legen – dafür hätten sie in einer einfachen Kaschemme eine ganze Platte voll Speck und Wurst bekommen!
Am Ausgang fing Alois sie ab und steckte ihnen ein zusammengefaltetes Bündel zu.
«Hier. Hab ich gefunden. Musst nichts bezahlen.»
«Danke!», sagte Eva und drückte ihm nach kurzem Zögern einen Kuss auf die Wange. Dann beeilte sie sich hinauszukommen. «Komm doch mal wieder, Eva», hörte sie ihn noch rufen, als sie den halbdunklen Hof durchquerte und einen widerwilligen Niklas hinter sich herzerrte. Die Decke, die sie vom Wirt erhalten hatte, hielt sie unter ihrem Rock fest.
«Es regnet immer noch», schimpfte ihr Bruder.
«Aber nicht mehr so arg. Wirst sehen, morgen scheint wieder die Sonne.»
«Und wo sollen wir schlafen?»
«Eine viertel Wegstunde von hier ist eine Scheuer.»
Dabei betete sie, dass sie dort tatsächlich übernachten konnten. Womöglich war die Scheune verriegelt, oder andere Wanderer hatten sie schon als Unterschlupf besetzt. Doch sie hatten Glück. Der Ort wirkte zwar verfallen, dafür war die Tür nur angelehnt und keine Menschenseele zu sehen.
Sie waren gerade wieder so nass wie vor dem Abendessen, aber immerhin war die dünne Pferdedecke unter ihrem Rock trocken geblieben. Eva schob die schmutzigen Heu- und Strohreste in die einzige Ecke, in der es nicht hereinregnete.
«Zieh dich aus und gib mir deine Kleider», sagte sie zu Niklas. Während ihr Bruder sich splitternackt und mit klapperndenZähnen in die Decke einwickelte, warf sie sein schmutziges Hemd und die zerschlissenen Beinkleider über den Deckenbalken, in der vagen Hoffnung, dass das Zeug bis zum Morgen einigermaßen trocken sein würde. Dann zog sie sich selbst aus, bis auf ihr Leinenhemd, das feucht und kalt auf der Haut klebte. So ungeniert sie sich früher den Geschwistern gezeigt hatte: Seitdem die Natur sie zur Frau gemacht hatte, schämte sie sich vor Niklas.
«He, lass mir auch noch einen Zipfel Decke», schalt sie, als sie sich neben ihm ausstreckte und den Arm um ihn legte. Aber Niklas war schon eingeschlafen.
In der Nacht erwachte sie aus ihrem unruhigen Schlaf, weil Niklas neben ihr hustete. Es war ein tiefer, trockener Husten. Erschrocken berührte sie seine Stirn: Er hatte Fieber! Das hatte gerade noch gefehlt, dass er kurz vor dem Ziel krank wurde. Ausgerechnet in dieser feuchten, zugigen Scheuer!
«Ich will nach Haus», jammerte er zwischen seinen Hustenanfällen. «Ich will zu unsren Eltern zurück.»
Obwohl ihr selbst bitterkalt war, rollte sie Niklas vollständig in die Decke ein, dann schmiegte sie sich eng an ihn, um sich an seinem fiebrigen Körper wie an einem Ofen zu wärmen. Heilige Elisabeth, heiliger Nikolaus, flehte sie still, bittet für uns, dass Niklas morgen wieder gesund ist!
Doch am nächsten Morgen glühte Niklas’ Stirn noch immer. Stöhnend wälzte er sich auf seinem Lager herum, während Eva ihm mit ihrer feuchten Schürze den Schweiß von der Stirn wischte. Er schien nicht bei sich zu sein, denn immer wieder aufs Neue rief er nach ihrer Mutter, zwischendurch auch nach Josefina und Adam. Eva erhob sich und zog ihre feuchten Kleider über. Sie musste ins Dorf, einen Bader aufsuchen. Unschlüssig stand sie in der offenen
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