Die Vampire
über seine zerschlagenen Lippen. Die Kutsche war von kupferigem Blutgeruch erfüllt, und Genevièves Mund war wie ausgedörrt. Sie hatte schon viel zu lange keine Nahrung mehr zu sich genommen.
»Nein«, sagte Beauregard schließlich. »Druitt kommt nicht infrage. Er spielt Kricket.«
»Ich kenne so manchen Strolch, der Kricket spielt. Das spricht keineswegs gegen die Tatsache, dass er ein dreckiger Mörder ist.«
»In diesem Fall schon. Am Morgen nach dem zweiten, vierten und fünften Mord befand sich Druitt jeweils auf dem Spielfeld. Am Morgen nach dem ›doppelten Erfolg‹ gewann er fünfzig Läufe.
Ich kann mir kaum vorstellen, wie er das hätte schaffen können, wenn er die ganze Nacht lang auf den Beinen gewesen wäre, um Frauen zu ermorden.«
Moran zeigte sich unbeeindruckt. »Sie reden schon genauso schlau daher wie dieser verdammte Detektiv, den man nach Devil’s Dyke verbracht hat. Nichts als Indizien, Beweise und Folgerungen. Der gute Druitt wird heute Abend Selbstmord begehen, wird sich die Taschen mit Steinen füllen und ein Bad in der Themse nehmen. Sein Leichnam wird wohl den einen oder anderen Kratzer abbekommen haben, ehe er gefunden wird. Aber bevor er zur Tat schreitet, wird er ein Geständnis hinterlassen. Und seine Handschrift wird der jener verfluchten, schwachsinnigen Briefe verteufelt ähnlich sehen.«
Moran versetzte Druitt einen Hieb, so dass dieser mit dem Kopf nickte.
»Das wird nicht viel wert sein, Colonel. Was ist, wenn der echte Ripper von neuem zu morden beginnt?«
»Huren gehen nun mal vor die Hunde, Beauregard. Dergleichen kommt recht häufig vor. Und wo wir einen Ripper gefunden haben, werden wir auch einen zweiten finden.«
»Lassen Sie mich raten. Pedachenko vielleicht, den russischen Agenten? Die Polizei hat ihn ja durchaus eine Weile als Täter in Betracht gezogen. Oder Sir William Gull, den Leibarzt der Königin? Dr. Barnardo? Prinz Albert Viktor? Walter Sickert? Oder vielleicht einen portugiesischen Seemann? Es ist ein Leichtes, jemandem ein Skalpell in die Hand zu drücken und ihn die Rolle des Mörders spielen zu lassen. Aber dem Morden wird man auf diese Weise kaum Einhalt gebieten können …«
»Ich hatte Sie nicht für so wählerisch gehalten, Beauregard. Es bereitet Ihnen offenbar Freude, Vampiren zu dienen oder …« - er bedachte Geneviève mit einem jähen Nicken - »… den Umgang mit ihnen zu pflegen. Noch mögen Sie warmblütig sein, aber Ihr
Blut wird von Stunde zu Stunde kälter. Ihr Gewissen scheint Sie nicht daran zu hindern, dem Prinzgemahl zu dienen.«
»Ich diene der Königin, Moran.«
Der Colonel lachte auf, verstummte jedoch sofort, als ein rasiermesserscharfer Lichtblitz das Innere der Kutsche erhellte und er Beauregards Stockdegen an der Kehle spürte.
»Auch ich kenne einen Silberschmied«, sagte Beauregard. »Genau wie Jack.«
Druitt stürzte von der Sitzbank, und Geneviève fing ihn auf. Aus seinem Stöhnen schloss sie, dass er innere Verletzungen erlitten hatte.
Morans Augen glommen rot im Dunkel. Die versilberte Stahlschneide lag kalt an seiner Kehle, ihre Spitze bohrte sich in seinen Adamsapfel.
»Ich werde Druitt verwandeln«, sagte Geneviève. »Anders ist er nicht zu retten, dazu sind seine Verletzungen zu schwer.«
Beauregard nickte ihr zu; seine Hand war eisern. Sie biss in ihr Handgelenk und wartete, bis Blut aus der winzigen Wunde quoll. Wenn Druitt ausreichend von ihrem Blut trank, während sie ihn zur Ader ließ, konnte die Verwandlung beginnen.
Sie war ohne Nachkommen geblieben. Ihr Fangvater hatte ihr einen guten Dienst erwiesen, und sie wollte nicht zu einem liederlichen Narren werden wie Lilys Murgatroyd oder Lord Godalming.
»Noch ein Neugeborener«, schnaubte Moran. »Wir hätten von Anfang an wählerischer zu Werke gehen sollen. Das werden mir allmählich zu viele Vampire.«
»Trinken Sie«, girrte Geneviève.
Was wusste sie eigentlich von Montague John Druitt? Wie sie selbst war auch er kein studierter Arzt, sondern ein in der Arzneikunst recht und schlecht bewanderter Amateur . Sie hatte nicht den leisesten Schimmer, weshalb ein Mann von Rang, der zudem
über ein nicht unbeträchtliches Einkommen verfügte, Toynbee Hall seine Dienste antrug. Er war weder ein besessener Philanthrop wie Seward noch ein Mann der Religion wie Booth. Geneviève hatte seine helfende Hand als selbstverständlich angenommen; nun musste sie die Verantwortung für ihn übernehmen, vielleicht sogar auf alle Zeit. Wenn er zu einem
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