Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
Vom Netzwerk:
hatte sie zwar sorgfältig, doch ohne übermäßiges Interesse untersucht, als prüfe er ein angehendes Rennpferd auf seine Tauglichkeit. Er hatte ihr einen
Schleier und Bettruhe verordnet. Heute kam sie nicht als Bittstellerin, sondern um einen Besuch zu machen.
    Als sie es müde geworden war, dass ihr niemand öffnete, stieß sie zaghaft die Türe auf. Sie trat ins Foyer und blickte sich um. Eine Oberin sauste im Laufschritt an ihr vorüber, eine Rolle Bettzeug an die Brust gepresst. Mary Jane machte »Hm«, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ihr Hüsteln, das zu einem leisen, damenhaften Laut bestimmt gewesen war, kam hervor als kehliges, beinahe vulgäres Räuspern. Sie hätte vor Scham im Erdboden versinken mögen. Die Oberin blickte ihr ins Gesicht und schürzte die Lippen, als wüsste sie augenblicklich um all den nichtswürdigen Schmutz aus Mary Jane Kellys Vergangenheit.
    »Ich möchte zu Dr. Seward«, sagte Mary Jane, indem sie auf jedes Wort, auf jede Silbe allergrößte Mühe verwandte.
    Die Oberin setzte ein missfälliges Lächeln auf. »Und wen darf ich melden?«
    Mary Jane hielt inne und erwiderte: »Miss Lucy.«
    »Lucy, nichts weiter?«
    Mary Jane zuckte mit den Achseln, als sei ihr Name ohne jeden Belang. Sie scherte sich keinen Deut um das Gehabe der Oberin und hielt es nur für ziemlich, sie in ihre Schranken zu verweisen. Schließlich war sie nichts weiter als eine gewöhnliche Bedienstete.
    »Miss Lucy, wenn Sie mir folgen möchten …«
    Die Oberin schob sich durch eine Innentür und hielt sie mit ihrem fettgepolsterten Steiß geöffnet. Mary Jane gelangte auf einen nach Seife duftenden Korridor und wurde eine nicht allzu reinliche Stiege hinaufgeführt. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stockwerk angekommen, deutete die Oberin kopfnickend auf eine Tür.
    »Dr. Seward ist dort drinnen, Miss Lucy.«
    »Tausend Dank.«

    Trotz ihrer Fleischesfülle versuchte die Oberin einen unbeholfenen, impertinenten Knicks. Ein garstiges Lachen unterdrückend, ging sie davon, schleppte sich eine zweite Treppe hinauf und ließ die Besucherin allein zurück. Mary Jane hatte gehofft, sie würde angemeldet, begnügte sich nun jedoch damit, eine Hand aus ihrem Muff zu ziehen und an die Tür der Amtsstube zu klopfen. Eine polternde Stimme rief etwas Unverständliches, und Mary Jane trat ein. John stand, vertieft in einen Stapel von Papieren, neben einem anderen Mann an seinem Schreibtisch. John würdigte sie keines Blickes, der zweite Mann hingegen - ein wohlgekleideter junger Bursche, bei dem es sich jedoch keineswegs um einen Gentleman handelte - sah auf und schien enttäuscht.
    »Nein«, sagte er, »Druitt ist es nicht. Wohin mag es Monty bloß verschlagen haben?«
    John ließ den Finger an einer Tabelle von Ziffern hinabgleiten, die er im Kopf zusammenrechnete. Zwar vermochte Mary Jane durchaus mit Zahlen umzugehen, konnte sie jedoch nie recht addieren: daher auch ihre Schwierigkeiten, was den Mietzins anbetraf. Schließlich hatte John seine Rechnung beendet, kritzelte etwas auf ein Blatt Papier und sah auf. Als er sie erblickte, vermittelte er den Eindruck, als habe man ihm hinterrücks das stumpfe Ende eines Treibhammers über den Schädel gezogen. Es schien ihr unerklärlich, und doch traten ihr brennende Tränen in die Augen, die sie krampfhaft zurückzuhalten suchte.
    »Lucy«, sagte er tonlos.
    Der junge Mann richtete sich auf, strich abwartend mit den Fingerknöcheln über sein Revers und machte sich bereit, der Dame vorgestellt zu werden. John schüttelte den Kopf, als wolle er die beiden Hälften eines zerbrochenen Ornaments zusammenfügen, die jedoch um keinen Preis aneinanderpassen wollten. Mary Jane fragte sich, ob sie nicht einen fürchterlichen Fehler begangen haben mochte.

    »Lucy«, sagte er ein zweites Mal.
    »Dr. Seward«, begann der junge Mann, »Sie sind überaus nachlässig.«
    Unvermittelt gewann John die Fassung zurück und tat nun so, als sei ihr Besuch etwas Alltägliches. »Ich bitte um Verzeihung«, sagte er. »Morrison, das ist Lucy. Meine … äh, eine Freundin der Familie.«
    Mr. Morrison bedachte sie mit einem hintergründigen Lächeln, wie um ihr zu bedeuten, dass er durchaus im Bilde sei. Mary Jane glaubte ihn bereits zu kennen; womöglich wusste der junge Mann am Ende gar um ihre wahre Identität. Sie ließ ihn ihre Hand ergreifen und neigte verschämt den Kopf. Ein Fehler, wie sie sogleich bemerkte; sie war eine Dame und kein Küchenmädchen. Sie hätte einen Handkuss

Weitere Kostenlose Bücher