Die Vampire
hatte er gewiss über die frische Sonnenbräune eines »alten Indienkenners« verfügt, dank der Hautsäcke jedoch, die sich wie Giftdrüsen unter seinem Kinn blähten, ähnelte er nunmehr einer Viper.
Moran brummte etwas, das als Begrüßung gelten mochte, und befahl ihnen, in die Kutsche zu steigen. Beauregard zögerte zunächst, dann tat er einen Schritt zurück, um Geneviève den Vortritt zu lassen. Kein ungeschickter Zug, befand sie. Wenn der Colonel Böses im Schilde führte, würde er zuallererst den Mann im Auge behalten, den er als Bedrohung erachtete. Der Neugeborene hielt es wohl kaum für möglich, dass sie um viereinhalb Jahrhunderte stärker war als er. Wenn es zum Schlimmsten kam, konnte sie ihn mit Leichtigkeit in Stücke reißen.
Geneviève setzte sich Moran gegenüber, und Beauregard nahm neben ihr Platz. Moran klopfte gegen das Dach. Als sich der Wagen in Bewegung setzte, kippte das schwarz vermummte Bündel neben dem Colonel nach vorn, so dass er es aufrichten und in das Polster drücken musste.
»Ein Freund?«, erkundigte sich Beauregard.
Moran schnaubte. Unter dem schwarzen Tuch verbarg sich ein Mensch, der entweder tot oder bewusstlos war. »Was würden Sie davon halten, wenn ich Ihnen sagte, dass dies der echte Jack the Ripper ist?«
»Ich würde Ihnen vermutlich glauben müssen. Wenn mich nicht alles täuscht, jagen Sie seit jeher ausschließlich das gefährlichste Wild.«
Morans Grinsen entblößte Reißzähne wie die eines Tigers. »Die Jagd nach Jägern. Der einzig nennenswerte Sport.«
»Man sagt, Sie könnten Quatermain und Roxton mit der Flinte
nicht das Wasser reichen, und niemand sei ein besserer Jäger als der Russe mit dem Mongolenbogen.«
Der Colonel wischte diese Vergleiche unwirsch beiseite. »Alles Warmblüter.«
Mit steif ausgestrecktem Arm suchte Moran das ungelenke Bündel am Vornüberfallen zu hindern. »Wir unternehmen diesen Jagdausflug auf eigene Faust«, sagte er. »Der Ring hat damit nichts zu schaffen.«
Beauregard dachte nach.
»Seit dem letzten Vorfall ist beinahe ein Monat vergangen«, meinte der Colonel. »Saucy Jack ist am Ende. Wahrscheinlich hat er sich mit einem seiner eigenen Messer die Kehle durchgeschnitten. Aber damit geben wir uns nicht zufrieden, hab ich Recht? Damit die Dinge ihren gewohnten Gang gehen können, müssen wir den Leuten zeigen, dass Jack ein für alle Mal am Ende ist.«
Sie befanden sich unweit des Flusses. Die Themse verströmte einen beißenden, fauligen Gestank. Der gesamte Schmutz und Kot der Stadt gelangte in den Fluss und wurde von dort über die sieben Weltmeere verbreitet. Der Unrat aus Rotherhithe und Stepney trieb nach Schanghai und Madagaskar.
Moran ergriff das schwarze Grabtuch und riss es fort. Darunter kam ein fahles, blutverschmiertes Gesicht zum Vorschein.
»Druitt«, entfuhr es Geneviève.
»Montague John Druitt, wenn ich mich nicht irre«, sagte der Colonel. »Ein Kollege von Ihnen, der äußerst sonderbaren nächtlichen Gewohnheiten frönt.«
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Druitts blutverkrustetes linkes Auge öffnete sich. Er hatte eine gehörige Tracht Prügel bezogen.
»Die Polizei hatte ihn bereits zu Beginn der Ermittlungen unter Verdacht«, sagte Beauregard zu Genevièves Erstaunen, »gelangte aber zu dem Schluss, dass er als Täter nicht infrage kommt.«
»Er hatte leichten Zugang«, wandte Moran ein. »Toynbee Hall liegt fast genau im Mittelpunkt der geometrischen Figur, die sich aus den Schauplätzen der Morde ergibt. Er passt hervorragend in das Bild, das sich das Volk vom Täter macht: ein spinnerter Geck mit bizarren Wahnideen. Ich bitte vielmals um Vergebung, Ma’am, aber niemand glaubt im Ernst, dass ein gebildeter Mensch sich allein aus christlicher Nächstenliebe unter Huren und Bettler begibt. Und niemand wird etwas dagegen haben, wenn Druitt die Schuld für die Metzelei einer Handvoll Huren auf sich nimmt. Er gehört ja nun nicht eben zur königlichen Familie, hab ich Recht? Zudem besitzt er für keinen der Morde ein Alibi.«
»Sie pflegen offensichtlich gute Beziehungen zum Yard?«
Moran verzog den Mund erneut zu einem wilden Grinsen. »Dann darf ich Ihnen und Ihrer Freundin also meine allerherzlichsten Glückwünsche aussprechen?«, fragte er. »Haben Sie Jack the Ripper gefasst?«
Beauregard hielt inne und dachte lange nach. Geneviève war verwirrt; allmählich wurde ihr bewusst, wie viel man ihr verheimlicht hatte. Druitt versuchte zu sprechen, brachte jedoch kein Wort
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