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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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Untoten getobt.
    »Schau«, sagte Charles betreten, »dort ist Van Helsings Kopf.«
    Geneviève reckte den Hals und erblickte den kümmerlichen Klumpen auf der Spitze einer Pike. Hier und da wurde gemunkelt, Abraham Van Helsing sei am Leben, befände sich in der Gewalt des Prinzgemahls, hoch über der Stadt, wo er die Herrschaft Draculas über London mit ansehen müsse. Das war eine Lüge; von Van Helsing war nichts übriggeblieben als ein mit Fliegendreck beschmutzter Schädel.
    Das Haupttor ragte drohend in die Finsternis empor, die Eisenstäbe waren mit neumodischem Stacheldraht umwickelt. Karpater in nachtschwarzen, rot geschlitzten Uniformen zogen die riesigen Gatter auf wie einen leichten Seidenvorhang, und die Kutsche schlüpfte hindurch. Geneviève fühlte mit Netley, der zweifellos schwitzte wie ein verschrecktes Schwein auf einem Ball
der Indien-Beamten. Der Palast sandte, von Wachtfeuern und elektrischen Glühlampen erhellt, schwarze Rauchschwaden gen Himmel, seine Fassade wie ein Ebenbild von Moloch dem Verschlinger.
    Charles’ Miene verriet nicht die leiseste Regung, doch in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. »Du kannst im Wagen bleiben«, beschwor er sie. »Hier bist du sicher. Ich komme gut allein zurecht. Es wird bestimmt nicht lange dauern.«
    Geneviève schüttelte den Kopf. Nachdem sie Vlad Tepes über Jahrhunderte gemieden hatte, wollte sie sich nun dem stellen, was sich hinter den Palastmauern verbarg.
    »Gené, ich bitte dich.« Ihm brach beinahe die Stimme.
    Zwei Nächte zuvor war sie mit Charles zusammen gewesen, hatte mit sanfter Zunge Blut aus den Wunden an seiner Brust geleckt. Unterdessen kannte und verstand sie seinen Körper. Sie hatten sich geliebt. Sie kannte und verstand ihn.
    »Worüber machst du dir solche Sorgen, Charles? Wir sind Helden, wir haben von Fürst Dracula nichts zu befürchten. Ich bin älter als er.«
    Der Wagen hielt vor dem maulähnlichen Portikus, und ein Lakai mit Perücke öffnete den Schlag. Geneviève stieg zuerst aus; das leise Knirschen der glatten Kieselsteine unter ihren Schuhen gab ihr ein behagliches Gefühl. Charles folgte; nervös und angespannt wie eine Bogensehne, raffte er sich den Umhang um die Schultern. Sie ergriff seinen Arm und schmiegte sich an ihn, doch er fand keine Ruhe. Voller Ungeduld harrte er der Dinge, die er im Palast vorfinden würde, doch hinter seiner Ungeduld verbarg sich abgrundtiefes Grauen.
    Jenseits des Palastzauns hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Schaulustige spähten in Erwartung der Wachablösung verdrossen durch die Gitterstäbe. Unweit des Tors erblickte Geneviève ein bekanntes Gesicht, die Chinesin aus dem Alten Jago.
Sie stand neben einem großen, betagten Asiaten, der etwas Heimtückisches an sich hatte. Hinter ihnen, im Schatten, stand eine noch größere, noch betagtere asiatische Gestalt, und unvermittelt spürte Geneviève, wie die Schrecken der Vergangenheit erneut von ihr Besitz ergriffen. Als sie abermals hinsah, waren die Chinesen verschwunden, doch das Herz schlug ihr bis zum Hals. Charles hatte ihr noch immer nicht erzählt, was hinter seinem Handel mit dem mörderischen Ältesten steckte.
    Der Lakai, ein Vampirjüngling mit goldfarbenem Gesicht, geleitete sie die breite Treppe hinauf und stieß mit seinem langen Stab an die Flügeltüren. Sie öffneten sich wie von einem stummen Mechanismus angetrieben und gaben den Blick frei auf das Marmorgewölbe einer weitläufigen Empfangshalle.
    Da das einzige gute Gewand, das sie besaß, zuschanden war, hatte sie ein neues schneidern lassen müssen. Heute trug sie es zum ersten Mal, ein schlichtes Ballkleid ohne Tournüren, Flitter oder Falbeln. Obschon sie bezweifelte, dass Vlad Tepes allzu sehr auf äußeren Schein bedacht war, glaubte sie, bei der Königin Eindruck machen zu müssen. Sie kannte die Familie noch aus deren Zeit als Kurfürsten von Hannover. Aus ihren warmblütigen Tagen war ihr nur ein kleines goldenes Kruzifix geblieben, das sie, anders als sonst, an der letzten einer langen Reihe immer neuer Ketten um den Hals trug. Ihr leiblicher Vater hatte es ihr zum Geschenk gemacht, da es, wie er meinte, von der Pucelle gesegnet worden sei. Obgleich sie dies bezweifelte, hatte sie es über die Zeit gerettet. Oftmals schon hatte sie ein ganzes Leben - Haus, Hof, Garderobe, Grundbesitz, Vermögen - hinter sich gelassen und nur das Kreuz behalten, welches die Jungfrau von Orleans vermutlich nie zu Gesicht bekommen hatte.
    Ein Windstoß teilte

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