Die Vampire
Der Vorsitzende, ein warmblütiger Diplomat, der allen Veränderungen trotzig die Stirn geboten hatte, hörte sie geduldig an, fällte aber kein Urteil, da jedes bisschen Erkenntnis entscheidenden Einfluss hatte auf die Taktik des Clubs, der oftmals mehr war als ein Club. Geneviève fragte sich, ob es sich bei diesen Räumlichkeiten um ein Refugium für die Pfeiler des ancien régime oder eine Brutstätte der Aufrührer handeln mochte. Neben Dravot fanden sich nur wenige Vampire unter den Mitgliedern des Diogenes-Clubs. Sie wusste, dass Charles für ihre Diskretion hatte bürgen müssen. Andernfalls hätte ihr der Sergeant vermutlich einen Besuch abgestattet, mit einer Garotte aus Silberdraht bewaffnet.
Sowie sich der Wagen in Bewegung setzte, beugte sich Charles nach vorn und ergriff ihre Hände. Er fixierte sie mit todernstem Blick. Er und sie waren vor zwei Nächten erst beisammen gewesen, privatim. Sein Kragen verbarg die Spuren ihres Stelldicheins.
»Gené, ich flehe dich an«, sagte er, »erlaube mir, die Kutsche vor dem Palast anzuhalten, damit du aussteigen kannst.« Seine Finger bohrten sich in ihre Handflächen.
»Das ist doch Unsinn, Liebling. Ich fürchte mich nicht vor Vlad Tepes.«
Er ließ von ihr ab und lehnte sich zurück; sein Kummer war ihm deutlich anzusehen. Früher oder später würde er sich ihr anvertrauen. Sie hatte lernen müssen, dass Charles’ Begierden vielfach im Widerspruch zu seinen Pflichten standen. Eben jetzt galt seine Begierde ihr. In welcher Richtung seine Pflichten lagen, vermochte sie noch nicht recht zu erkennen.
»Darum geht es nicht. Es …«
… die Unordnung, in der er Mycroft vorfand, erweckte in Beauregard den Eindruck, als habe der Schlussakt des Schauspiels nun begonnen. Bei ihrer diesmaligen Zusammenkunft bestand die Clique allein aus Mycroft.
Der Vorsitzende spielte mit dem Skalpell. »Das berühmte Silbermesser«, sagte er nachdenklich, während er mit dem Daumen über die Klinge fuhr. »So scharf.«
Er legte das Messer beiseite und stieß einen Seufzer aus, der seine wabbeligen Wangen erzittern ließ. Er hatte einiges von seinem erstaunlichen Gewicht verloren, und obgleich seine Haut allmählich erschlaffte, waren seine Augen scharf wie eh und je.
»Man hat Sie in den Palast geladen. Erweisen Sie unserem Freund im Dienst der Königin die Ehre. Sie brauchen sich nicht vor ihm zu fürchten. Er ist der freundlichste Bursche, den man sich nur vorstellen kann. Eine Spur zu freundlich, um ehrlich zu sein.«
»Ich habe allerhand Gutes über ihn gehört.«
»Prinzessin Alexandra selig war ihm seinerzeit sehr zugeneigt. Arme Alex.« Mycroft türmte seine fetten Finger übereinander und bettete sein Kinn darauf. »Wir verlangen einiges von unseren Leuten. Es gibt verteufelt wenig Lorbeeren zu ernten in dieser heillosen Angelegenheit, aber wir müssen sie zu einem Ende bringen.«
Beauregard blickte auf das schimmernde Messer.
»Wir dürfen kein Opfer scheuen«, setzte Mycroft hinzu.
Beauregard dachte an Mary Jane Kelly. Und all jene, die in diesem Fall ihr Leben hatten lassen müssen, die einen nichts als Namen in der Zeitung, die anderen erstarrte Gesichter: Seward, Jago, Godalming, Kostaki, Mackenzie, von Klatka.
»Wir alle würden tun, worum wir Sie bitten«, insistierte Mycroft.
Beauregard wusste, dass er die Wahrheit sprach.
»Leider gibt es nicht mehr viele von uns.«
Sir Mandeville Messervy wartete auf seine Hinrichtung wegen Hochverrats, ebenso andere Würdenträger, unter ihnen der Dramatiker Gilbert, der Finanzkoloss Wilcox, die Erzreformerin Beatrice Potter und der radikale Redakteur Henry Labouchère.
»Eines will mir dennoch nicht einleuchten, Herr Vorsitzender. Wie sind Sie auf mich verfallen? Was habe ich getan, was nicht auch Dravot hätte tun können? Sie haben mich durch das Labyrinth irren lassen, obgleich er sich immerzu in meiner Nähe aufhielt. Er hätte all das auf eigene Rechnung zuwege bringen können.«
Mycroft schüttelte den Kopf. »Dravot ist ein guter Mann, Beauregard. Wir haben es vorgezogen, Sie in Unkenntnis darüber zu belassen, welche Rolle er bei unseren Plänen spielt, es sei denn …«
Beauregard schluckte die bittere Pille ohne Murren.
»Aber Dravot ist eben nicht wie Sie. Er ist kein Gentleman. Was er auch tut, er würde niemals, niemals zur königlichen Audienz geladen werden.«
Endlich hatte Beauregard begriffen …
… zwei karpatische Gardisten in vollem Ornat hatten Geneviève die gravierte
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