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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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seinem hellen Schein und dem Vampir, dessen Finger er schmückte. Fürst Dracula saß, wuchtig wie ein aus Stein gehauenes Standbild, auf dem Thron, und sein monströs gedunsenes Gesicht war eine tiefrote, mit welkem Grau bekrönte Maske. Die blutverklebten Schnurrbartspitzen reichten ihm bis auf die Brust, das dichte Haar wallte ihm über die Schultern, und von seinem mit schwarzen Bartstoppeln besäten Kinn troff der Lebenssaft seines letzten Opfers. Er wog den Reichsapfel in der linken Hand, als sei dieser nicht größer als ein Tennisball.
    Charles geriet beim Anblick seines Widersachers ins Wanken, der Gestank traf ihn wie ein Faustschlag in den Magen. Geneviève stützte ihn und sah sich um.
    »Nie hätte ich mir träumen lassen …«, murmelte er, »niemals …«
    Ein abgerissener, hermelinbesetzter schwarzer Samtumhang spannte sich um Draculas Schultern wie die Schwingen einer riesenhaften Fledermaus. Darunter kam sein nackter, über und über mit verfilzten Haaren bewachsener Leib zum Vorschein; eine dicke Kruste aus Schmutz und Blut bedeckte seine Brust und seine Glieder. Sein weißes Geschlecht mit einer Spitze rot wie eine Natternzunge lag schlaff in seinem Schoß. Sein Leib war blutgebläht, und die pulsierenden seildicken Adern am Hals und an den Armen traten deutlich hervor. Zu Lebzeiten war Vlad Tepes allenfalls von mittlerer Größe gewesen; nun jedoch war er ein Riese.
    Ein rotgesichtiger Karpater in zerlumpter Uniform jagte ein warmblütiges Mädchen quer durch den Saal. Es war Rupert von Hentzau. Während er ihr ungelenk folgte, verschoben sich seine Schädelbeine und verzerrten sein Gesicht zu einer furchterregenden
Fratze. Er brachte das Mädchen mit einem weit ausholenden Klauenhieb zu Fall und riss ihr Hemd und Haut vom Leib. Dann schlug er ihr seine dreigelenkigen Kiefer in Rücken und Flanken, fraß von ihrem Fleisch und trank von ihrem Blut. Noch während er sich an ihr labte, wurde er zur wölfischen Bestie, streifte er Hosen und Stiefel ab, wurde sein Gelächter zu Geheul. Das Mädchen war sofort tot.
    Draculas Lächeln entblößte gelbe Zähne, lang und dick wie zugespitzte Daumen. Geneviève blickte dem König der Vampire geradewegs ins Gesicht.
    Die Königin kniete neben dem Thron; um ihren Hals lag ein nagelbesetztes Eisen, das durch eine massive Kette mit einem weiten Armband um Draculas Handgelenk verbunden war. Sie trug nichts als Hemd und Strümpfe; das braune Haar fiel ihr offen auf die Schultern, ihr Gesicht war blutverschmiert. Es war unmöglich, in dieser missbrauchten, erbarmungswürdigen Gestalt die rundliche alte Frau wiederzuerkennen, die sie einst gewesen war. Geneviève hoffte inständig, dass die Königin den Verstand verloren hatte, befürchtete jedoch, dass sie wohl wusste, was rings um sie vorging. Viktoria wandte den Blick vom Opfer des Karpaters.
    »Königliche Hoheiten«, sagte Charles, indem er sich verbeugte.
    Ein enormer Furz räudigen Gelächters brach aus Draculas mit scharf gezackten Fangzähnen bewehrtem Maul. Der Pesthauch seines Atems erfüllte den Saal. Er roch nach Tod und Verwesung.
    »Ich bin Dracula«, sagte er in erstaunlich akzentfreiem, flüssigem Englisch. »Und wer sind unsere hochwillkommenen Gäste, wenn ich fragen darf?«
     
    … er befand sich im Auge eines Alptraumorkans. Doch sein Wille war eisern. Dieser Anblick machte ihn zu einem iustum et tenacem propositi virum, zu einem rechten Mann, der fest am Entschlusse
hält. Später, wenn er dann noch lebte, würde er seiner Übelkeit vielleicht nachgeben. Nun aber, in diesem entscheidenden Moment, musste er sich völlig in der Gewalt haben.
    Obgleich er nie ein richtiger Soldat gewesen war, hatte er auf der Militärakademie wie auch im Felde die Kunst der Strategie erlernt. Ein Blick verriet ihm, wo im Thronsaal sich wer befand. Die meisten brauchten ihn nicht zu kümmern, doch Geneviève, Merrick und, aus unerfindlichen Gründen, Mina Harker bereiteten ihm Sorge. Sie alle standen hinter ihm.
    Der Mann und die Frau auf der Estrade nahmen seine ganze Aufmerksamkeit gefangen: die Königin, deren unübersehbare Qualen ihm das Herz zerreißen wollten, und der Fürst, der wohlgefällig auf dem Thron saß und sich an dem wüsten Chaos rings um ihn herum ergötzte. Draculas Gesicht schien wie auf Wasser gemalt; bisweilen gefror es zu spiegelblankem Eis, zumeist aber war es im Fluss, in unablässiger Bewegung. Beauregard erblickte immer neue Gesichter unter der Oberfläche. Die roten Augen und die

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