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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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Keiner von Geertruida Zelles »Verehrern« hatte es für nötig befunden, diesem Schauspiel beizuwohnen.
    Ob ihre Geschichte nur eine Abschiedsvorstellung war? Vielleicht wollte sie ihn so kurz vor ihrem Tode mit einer letzten Lüge täuschen, die ihn vom eigentlichen Vorhaben der Deutschen in Malinbois ablenkte. Doch er war geneigt, ihr Glauben zu schenken. Der Graf von Dracula war ein romantischer Denker, und ihre Geschichte war ein romantisches Schauermärchen mitsamt Schlössern, Grüften, Blut und dem Untergang geweihten Edelleuten. Er hatte die verbleibenden Seiten seines Notizbuchs mit Kurzschrift gefüllt.
    Die Soldaten des Erschießungskommandos traten an wie zum Appell. Knaben mit uralten Augen. Nach vier Jahren sahen nicht nur die Untoten älter aus, als sie tatsächlich waren. Beauregard fragte sich, ob diese poilus glücklicher gewesen wären, wenn statt der Zelle Mireau am Pfahl gestanden hätte. Den gemeinen Soldaten war der General verhasster als der Kaiser.
    »Charles«, riss ihn eine Frauenstimme aus seinen Gedanken. »Wir begegnen uns an den merkwürdigsten Orten.«
    Die kleine Vampirfrau trug Reithosen und eine gegürtete Jacke. Ihr rötliches Haar steckte unter einer übergroßen Stoffmütze, und ihre Augen waren hinter dicken, blau getönten Gläsern verborgen. Die helle Stimme verriet ihre irische Herkunft.
    »Kate«, sagte er, überrascht und erfreut. »Guten Morgen.«
    Sie setzte ihre Brille ab und blinzelte in das verblichene Zartrot des bedeckten Himmels.
    »Den Morgen will ich Ihnen zugestehen.«

    Kate Reed war zehn Jahre jünger als er und hatte sich mit fünfundzwanzig verwandelt. In den dreißig Jahren ihres Vampirlebens waren ihre Augen nicht gealtert.
    Die Journalistin war während der Zeit des Schreckens zur leidlichen Heldin aufgestiegen. Der Karpatischen Garde immer zwei Schritte voraus, hatte sie eine Untergrundzeitschrift herausgegeben. Auch während der Regentschaft König Victors war sie der Obrigkeit mit kritischer Strenge begegnet. Als fabianische Sozialistin und Verfechterin der Autonomie Irlands schrieb sie für den New Statesman und das Cambridge Magazine. Seit dem Beginn der Auseinandersetzungen hatte man sie zweimal aus Frankreich ausgewiesen und einmal in Irland festgesetzt.
    »Ich dachte, Sie seien nach London abberufen worden«, sagte er.
    Sie schenkte ihm ein knappes, verschmitztes Lächeln, und ihre Augen funkelten. »Ich habe mich von der Grub Street zurückgezogen und als Freiwillige einen Sanitätswagen chauffiert. Unsere alte Freundin Mina Harker gehört dem Auswahlkomitee an; sie ist nach wie vor darum bemüht, ihren Fehler wiedergutzumachen. Ich wurde mit dem nächsten Schiff zurückgeschafft.«
    »Dann sind Sie also gar keine Reporterin?«
    »Ich bin Beobachterin, wie immer. Eines der wenigen Metiers, die wir Vampire wirklich beherrschen. Kein Wunder, wir haben ein langes Leben und zu viel freie Zeit.«
    Die ersten Sonnenstrahlen spießten die Wolken, und sie setzte ihre Brille wieder auf.
    Er und Kate Reed hatten eine gemeinsame Vergangenheit. Sie beide waren Kinder eines anderen Jahrhunderts. Doch im Gegensatz zu ihm besaß sie das Rüstzeug, diese neue Ära zu meistern und zu überdauern.
    »Ich habe Sie immer schon bewundert«, sagte er.
    »Sie reden, als wollte man Sie erschießen.«

    »Das wäre vielleicht sogar das Beste. Ich bin alt und müde, Kate.«
    Sie nahm seine Hand und drückte sie. Er versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sie ihm wehtat. Wie viele Vampire vergleichsweise jüngerer Herkunft wusste sie ihre Kräfte nicht recht zu dosieren.
    »Charles, Sie sind wahrscheinlich der letzte anständige Mensch in ganz Europa. Sie dürfen sich unter keinen Umständen entmutigen lassen. So blödsinnig Ihnen das Gerede vom ›Krieg zur Beendigung des Krieges‹ auch erscheinen mag, wir können es in die Tat umsetzen. Diese Welt gehört uns ebenso wie Ruthven oder Dracula.«
    »Und ihr?«
    Er wandte den Kopf und reckte das Kinn. Während die Sonne die Kaserne erhellte, wurde Geertruida Zelle vom Schließer und zwei Wachposten ins Freie geführt. Auf eigenen Wunsch trug sie einen Schleier, um ihr empfindliches Gesicht gegen das Licht zu schützen. Sie hatte die Augenbinde verweigert und auf geistigen Beistand verzichtet.
    »Madame Mata Hari hat sich töricht verhalten«, sagte sie höhnisch. »Ich kann nicht allzu viel Mitleid für sie aufbringen. Mit ihren Ränken hat sie brave Männer en gros in den Tod getrieben.«
    »Sie sind eine fabianische

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