Die Vampire
bemerkenswert.
»Madame Zelle?«, fragte er höflich, doch ohne besonderen Nachdruck.
Anmutig stand sie auf und erwiderte seinen Gruß. »Mr. Beauregard.«
Achselzuckend betrachtete er ihre blasse, ausgestreckte Hand.
»Vorschriften«, erklärte er mit matter Stimme.
Die Gefangene versuchte ein Lächeln. »Natürlich. Wenn Sie mich berühren würden, wären Sie mein Sklave. Sie würden die Wachen überwältigen und bis aufs Messer kämpfen, um mir zur Flucht zu verhelfen.«
»So ungefähr.«
»Wie albern.«
Der Schließer brachte ihm einen Stuhl. Sie nahm wieder Platz, und er setzte sich.
»Sie sind also der raffinierte Engländer, der mich gefasst hat?«
»Bedauerlicherweise ja.«
»Da gibt es nicht das Geringste zu bedauern. Sie haben nur Ihre Pflicht erfüllt.«
Vor dem Krieg hatte er sie ihren berühmten javanischen Todestanz tanzen sehen. Zwar war sie keine Isadora und ihr unbekannter Lehrer kein Diaghilew, doch der gewaltige Eindruck, den sie bei ihrem Publikum - ob öffentlich oder privat, ob Fähnrich oder General - hinterlassen hatte, war nicht zu leugnen.
»Sie sind ein ehrbarer englischer Patriot, und ich bin eine prinzipienlose holländische Abenteurerin. Nicht wahr?«
»Dazu möchte ich mich nicht äußern, Madame.«
Ihre Augen wurden größer. In ihrem Blick lag kalte, planlose Wut. Doch das war noch nicht alles.
»Sie sind Warmblüter, nicht wahr?«
Hatte sie ihn für einen Vampir gehalten? Manche nosferatu glaubten, dass nur ein Blutsauger es an Verstandeskraft mit ihnen aufnehmen könne.
»Wie alt sind Sie, Mr. Beauregard?«
Eine ungewöhnliche Frage. »Vierundsechzig.«
»Ich hätte Sie für fünf oder zehn Jahre jünger gehalten. Vampirgift hat Ihr Blut befleckt und den Alterungsprozess verzögert. Aber das spielt keine Rolle. Es ist noch nicht zu spät, sich zu verwandeln. Sie könnten ewig leben, wieder jung werden.«
»Ist das eine so angenehme Aussicht?«
Ihr Lächeln wirkte echt, nicht aufgesetzt. Ein winziger funkelnder Fangzahn lugte zwischen ihren roten Lippen hervor.
»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum, das gebe ich gern zu. Anders als Sie bin ich unsterblich, aber im Gegensatz zu mir werden Sie den morgigen Sonnenaufgang noch erleben.«
Er versuchte einen verstohlenen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen. Noch zwei Stunden bis Tagesanbruch.
»Das Todesurteil kann immer noch aufgeschoben werden.«
»Haben Sie Dank für Ihr Mitgefühl, Engländer. Wie ich höre, sind Sie persönlich für mein Leben eingetreten. Damit haben Sie Ihren Ruf aufs Spiel gesetzt.«
Wenn sie nicht tatsächlich imstande war, ihrem Gegenüber mit einem einzigen Blick wohlgehütete Geheimnisse zu entlocken, konnte sie unmöglich wissen, dass er ihre Begnadigung empfohlen hatte.
Ihr Lächeln wurde breiter und entblößte einen Fangzahn. »Ich
habe meine Quellen. Geheimnisse lassen sich leicht entschlüsseln.«
»Wie Sie eindrucksvoll bewiesen haben.«
»Sie sollten Ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen. Sie haben meine armseligen Geheimnisse ergründet wie ich die vieler berühmter Männer. Allein durch konzentriertes Nachdenken ist es Ihnen gelungen, meine Schleier und Intrigen zu durchschauen. Kompliment.«
Er versuchte sich ihrer Schmeicheleien zu erwehren. Sie zählten zu ihren stärksten Waffen. Alternde Offiziere waren ihre bevorzugte Beute gewesen.
»Ich habe die Kunst der Enthüllung bei Meistern ihres Faches erlernt«, erklärte Beauregard.
»Sie sind ein ranghohes Mitglied der herrschenden Clique des Diogenes-Clubs, der zweit- oder drittwichtigste Mann des britischen Geheimdienstes.«
Sie wusste mehr, als bei ihrem Prozess ans Licht gekommen war.
»Keine Sorge, Charles. Ich werde Ihre wenigen mir bekannten Geheimnisse mit in mein armseliges Grab nehmen.«
Plötzlich gebrauchte sie seinen Vornamen.
»Es tut mir aufrichtig leid, Geertruida«, erwiderte er ihre Vertraulichkeit.
»Geertruida?«, sagte sie und ließ sich den ungewohnten Namen auf der spitzen Zunge zergehen. »Geertruida«, bekannte sie schließlich. Enttäuscht ließ sie die schmalen Schultern sinken. »Wie hässlich, wie erbärmlich, wie plump. Beinahe deutsch. Aber es ist nun einmal der Name, mit dem ich geboren wurde, der Name, unter dem ich sterben werde.«
»Aber nicht der Name Ihrer Unsterblichkeit«, meinte er.
Mit langen Fingern umrahmte sie ihr hübsches Gesicht und ließ im Mondlicht dramatisch ihre Nägel flattern. »Nein, ich werde auf ewig Mata Hari sein.«
Sie parodierte die
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