Die Vampire
angetreten, den sie zwar erobert, aber nicht hatten halten können. Der verstümmelte Lantier hatte Glück gehabt. Gesund und munter wäre er womöglich unter dem Dutzend Männer gewesen, die Mireau wegen Feigheit hatte erschießen lassen. So qualifizierte er sich für einen Platz im inoffiziellen Veteranenbund aller Entstellten, der Union des Gueules Cassées, der Bruderschaft der Matschgesichter.
Mit der Spitze seines kleinen Fingers öffnete Lantier ein Loch in seiner unteren Gesichtshälfte und schob einen Glimmstängel hinein. Kate nahm die ihr angebotene Zigarette dankend an, und Lantier gab ihr mit einem Zündholz Feuer.
Der Corporal hustete, und Rauchwolken umhüllten sein Gesicht. Einerseits war er der Journalistin selbstverständlich dankbar, dass sie General Mireau verurteilt hatte, doch es gab triftigere Gründe. Vor dem Krieg hätte man für zwanzig Francs ein ganzes Pferd bekommen. Jetzt war dafür allenfalls ein Stückchen Pferdefleisch zu haben.
»Die beiden haben sehr leise gesprochen, Mademoiselle«, entschuldigte sich Lantier, »und ich höre nicht mehr so gut …«
Eines seiner Ohren fehlte ganz, das andere war ein eitriger Klumpen.
»Aber Sie haben etwas gehört.«
Sie fügte dem Geldbündel in seiner Hand immer neue Noten hinzu.
»Ein Wörtchen hier und da … ein paar Namen … Château du Malinbois, Professor ten Brincken, Baron von Richthofen, General Karnstein …«
Für jeden Namen gab es weitere zehn Francs.
»Das reicht«, entschied sie. »Sagen Sie mir, was Sie gehört haben.«
Lantier zuckte die Achseln und begann …
Als Corporal Lantier geendet hatte, war es fast Mittag. Kate hatte ein ganzes Notizbuch vollgeschrieben, wusste jedoch nicht recht, was sie von seiner Geschichte halten sollte. Sie hatte gehörige Lücken. Mit etwas Scharfsinn würde sie die eine oder andere füllen können, die meisten aber nicht.
Zwar hatte sie mit Neuigkeiten über die Perfidien General Mireaus gerechnet, doch dies ließ die ganze Sache in einem völlig anderen Licht erscheinen. Sie würde dringend Informationen über Richthofens Monstrositätenkabinett einholen müssen. Dass Charles eigens nach Paris gereist war, um Mata Hari anzuhören, deutete darauf hin, dass hier eine Geschichte verborgen lag.
Lantier geleitete sie hinaus. Ohne ihre einzige Gefangene war die Kaserne tot. Das Erschießungskommando befand sich auf Urlaub in Paris und würde bei Sonnenuntergang in die Schützengräben zurückkehren.
Sie gingen über den Exerzierplatz. Kate blieb stehen und untersuchte den Pfahl, an dem Mata Hari gestorben war.
»Nach der Enthauptung«, sagte Lantier, »standen junge Männer Schlange, um ihre Taschentücher in das Blut zu tauchen. Als Andenken.«
»Oder um davon zu kosten. Es wirkt gewiss berauschend. Das Blut von Mata Hari.«
Lantier spuckte aus und verfehlte den Pfahl.
»Vampirblut könnte helfen …«, begann sie und deutete auf Lantiers Gesicht.
Er schüttelte den Kopf und spuckte ein zweites Mal aus. »Der Teufel soll euch holen, ihr verfluchten Blutsauger! Wozu seid ihr schon gut?«
Sie wusste keine Antwort. Viele Franzosen, besonders die aus der Provinz, dachten wie Lantier. Der Vampirismus hatte hier nicht Fuß gefasst wie in Britannien, Deutschland und Österreich-Ungarn. Zwar hatte auch Frankreich seine Ältesten - wie zum Beispiel Geneviève - und eine wachsende Schar von Neugeborenen, häufig selbst ernannte »Symbolisten« und »Moderne«, doch in den besten Kreisen waren Vampire noch immer nicht gänzlich willkommen.
Alfred Dreyfus war zum Sündenbock geworden, weil er zugleich Jude und Vampir gewesen war.
Sie sagte Lantier Lebewohl und verließ den Exerzierplatz. Ihr getreues Hoopdriver-Fahrrad lehnte an einem alten Anbindepfosten der Kavallerie neben dem Haupteingang. Der Stabswagen stand noch immer auf der Straße.
Kate wusste, dass sie in Gefahr war. Diesen Spürsinn hatte sie während der Zeit des Schreckens entwickelt. Ihre Nägel schossen hervor wie Katzenkrallen.
Sie trat um die Hecke herum auf die Straße und nahm den Wagen in Augenschein. Auf dem Vordersitz saß ein Chauffeur, und der Fond stand einen Spaltbreit offen. Jemand blickte sie aus Schweinsäuglein an.
»Ego te exorcisat«, kreischte eine Stimme. »Leide, du gemeine Hure, leide die Qualen der Verdammten!«
Ein schwarz gekleideter Mann sprang hinter einem Zaun hervor und stürzte auf sie zu. Der wildäugige, weißhaarige Priester hatte in seinem Versteck auf sie gelauert. Sie erkannte
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