Die Vampire
wo das Mädchen gestorben war, und fühlte nichts als die Kälte. Hellseherische Medien waren dem Rufe nach imstande, einen Menschen anhand unsichtbarer ektoplasmischer Rückstände aufzuspüren, wie ein Bluthund sich auf eine Fährte setzt. Diejenigen jedoch, die der Metropolitan Police ihre Dienste anerboten hatten, waren zu keinerlei bemerkenswerten Ergebnissen gelangt. Das Loch, in dem Silver Knife sein Werk verrichtet hatte, war winzig. Selbst einer kleinen Frau wie Lulu Schön hatte man sämtliche Gliedmaßen verrenken müssen, um sie dort hineinzustopfen. Reingewaschene Ziegel, die an der rußgeschwärzten Mauer ebenso anstößig wirkten wie das Weiß eines freiliegenden Knochens, ließen keinen Zweifel daran, wo sich die Blutflecke befunden hatten. Mehr, so dachte Beauregard, war mit diesem makabren Besuch nicht zu gewinnen.
Er wünschte dem Constable eine gute Nacht und begab sich auf die Suche nach einer Droschke. In der Flower & Dean Street versprach ihm eine Vampirhure für ein oder zwei Unzen seines Blutes ewiges Leben. Er schnippte ihr eine Kupfermünze hin und ging seines Weges. Wie lange noch würde er die Kraft haben, ihnen zu widerstehen? Schon jetzt, mit fünfunddreißig Jahren, bemerkte er, wie er von Tag zu Tag schwächer wurde. In der Kälte spürte er seine Wunden. Ob ihm sein Entschluss, warmen Blutes ins Grab zu fahren, mit fünfzig oder sechzig womöglich lächerlich, pervers erscheinen würde? Oder gar sündhaft? War seine
Verweigerung des Vampirismus moralisch am Ende dem Selbstmord vergleichbar? Sein Vater war mit achtundfünfzig Jahren gestorben.
Die Vampire waren auf die Hilfe und den Lebenssaft der Warmblüter angewiesen, wollten sie die Stadt über die Tage retten. Anders als in den Salons von Mayfair waren sie hier im East End bereits untot und hungerten, wie die Armen immer schon gehungert hatten. Wie lange würde es noch dauern, bis man die »dringlichen Maßnahmen«, für die Sir Danvers Carew im Parlament gestritten hatte, ernsthaft in Betracht zog? Carew vertrat die Ansicht, man solle noch mehr Warmblüter einsperren - nicht nur Verbrecher, sondern jedes greifbare gesunde Exemplar -, um jenen hochstehenden Vampiren als Vieh zu dienen, die für die Regierung des Landes unentbehrlich waren. Aus Devil’s Dyke verlauteten Geschichten, die Beauregard das Blut gefrieren ließen. Schon jetzt war die Strafbarkeit so weit gefasst, dass sie allzu viele anständige Männer und Frauen mit einschloss, die schlichtweg außerstande waren, mit dem neuen Regime ihr Abkommen zu treffen.
Endlich fand er einen Hansom und bot dem Kutscher zwei Gulden, ihn nach Cheyne Walk zurückzubringen. Der Fuhrmann hob die Peitsche an die Krempe seines Zylinders. Beauregard nahm hinter der zweiflügeligen Halbtür Platz. Mit seinem rot gepolsterten Interieur, das Beauregard an die mit Plüsch ausgekleideten Särge in den Auslagen der Oxford Street gemahnte, stellte der Hansom ein für dieses Viertel viel zu extravagantes Transportmittel dar. Er fragte sich, ob er wohl einen distinguierten Fahrgast auf der Suche nach amourösen Abenteuern hierherbefördert haben mochte. Die Häuser im Bezirk hatten für jeden Geschmack etwas zu bieten. Frauen und Knaben, einerlei ob Warmblüter oder Vampire, waren für wenige Shilling reichlich zu haben. Gemeine Dirnen wie Polly Nichols und Lulu Schön verkauften sich schon für ein paar Kupfermünzen oder einen Schuss Blut. Womöglich
war der Mörder jemand, der nicht aus dieser Gegend stammte, nichts weiter als ein Stutzer unter vielen, die seltsamen Gelüsten frönten. In Whitechapel war alles zu bekommen, ob man nun dafür bezahlte oder es sich einfach nahm.
Seine Geschäfte hatten ihn an weitaus schlimmere Orte geführt. Er hatte mehrere Wochen als einäugiger Bettler in Afghanistan verbracht, auf der Fährte eines russischen Gesandten, der im Verdacht stand, die in den Bergen ansässigen Stämme aufzuwiegeln. Während des Burenaufstands hatte er einen Vertrag mit den Amahagger ausgehandelt, deren Vorstellung von einer gelungenen Abendunterhaltung sich darin erschöpfte, die Köpfe ihrer Gefangenen in Tonkrügen zu garen. Dennoch hatte es ihn ungemein erstaunt, London nach einem längeren Auslandsaufenthalt im geheimen Auftrag Ihrer Majestät in eine Stadt verwandelt vorzufinden, die noch seltsamer, gefährlicher und bizarrer war als alle, die er je gesehen hatte. Einstmals Herz des Empire, war sie nun ein Schwamm, der das Blut des Reiches in sich aufsog, bis er
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