Die Vampire
sich zu jenem Ort hinziehen, an dem der letzte Mord geschehen war. Trotz des wallenden Nebels und der Angst vor Silver
Knife waren die Straßen zum Bersten voll. Sowie es auf Mitternacht ging, kamen die Untoten hervor. In den hell erleuchteten Schenken und Varieté-Theatern wimmelte es von lachenden und grölenden Gestalten. Fliegende Händler verhökerten Notenblätter, Phiolen voller »Menschenblut«, Scheren und Souvenirs mit dem Abbild der königlichen Familie. In der Old Montague Street wurden über einem Tonnenfeuer geröstete Kastanien an Warmblüter wie auch Neugeborene verkauft. Zwar benötigten Vampire keine feste Nahrung, doch war gegen die Macht der Gewohnheit nur schwer anzukommen. Knaben boten fantasievoll illustrierte Flugschriften feil, welche die grausigen Einzelheiten der Untersuchung des Falles Lulu Schön brühwarm schilderten. Es waren ungleich mehr uniformierte Polizisten im Einsatz als sonst, zumeist Neugeborene. Beauregard nahm an, dass man Befehl gegeben hatte, eine jede verdächtige Gestalt, die in Whitechapel umherbummelte, einer genauen Prüfung zu unterziehen, was die Polizei vor ein verzwicktes Problem stellte, da der Bezirk vor verdächtigen Gestalten aus allen Nähten platzte.
Ein Leierkasten spielte die Arie »Nimm ein rotes Augenpaar« aus der Oper Die Vampyre von Venedig, oder: Die Maid, der Schatten und das Messer von Gilbert und Sullivan. Das schien durchaus angemessen. Die Maid - wenngleich es um ihre Jungfernschaft eher schlecht als recht bestellt gewesen war - und das Messer spielten in diesem Fall eine nur allzu offenkundige Rolle. Der Schatten war der Mörder, verborgen hinter einem Schleier aus Blut und Nebel.
Ungeachtet der Zeugenaussage Dr. Jekylls erwog Beauregard die Möglichkeit, dass es sich bei den Verbrechen um das Werk verschiedener Täter handelte, um Ritualmorde etwa, wie die Erdrosselungen der Thags oder die Exekutionen der Camorra. Das Ausmaß der Verstümmelungen überstieg ihre Notwendigkeit, falls der Mörder nichts anderes im Sinn hatte, als sein Opfer zum
wirklichen Tode zu befördern. Spekulationen der Pall Mall Gazette zufolge gemahnten die wilden Exzesse der Verbrechen an einen Ritus der Azteken. Mehr noch, Beauregard gemahnten sie an Vorfälle in China, Ägypten und Sizilien, die mit Geheimbünden im Zusammenhang standen. Derlei Grausamkeiten dienten nicht nur dazu, einen Feind zu liquidieren, sondern übermittelten gleichzeitig eine Botschaft an die Bundesgenossen des Opfers und all jene, die entschlossen waren, sich auf seine Seite zu schlagen. Die Hauptstadt wimmelte von Geheimbünden und ihren Agenten; es schien ihm nicht allzu unwahrscheinlich, dass die eine oder andere Freimaurerloge bereits geschworen hatte, Abraham Van Helsings Kreuzzug gegen den Prinzgemahl und seine Brut fortzuführen. Als Agent des Diogenes-Clubs war Beauregard in gewissem Sinne sogar Mitglied solch einer Vereinigung; die Clique war in sich gespalten, hin- und hergerissen zwischen ihrer Loyalität an die Königin und der Beargwöhnung des Lordprotektors.
Scharfe Augen nahmen seine vornehme Kleidung ins Visier, ihre Besitzer jedoch gingen ihm zumeist aus dem Weg. Beauregard war sich der Uhr in seiner Weste und der Börse in der Innentasche seines Rockes wohl bewusst. Überall schwärmte es von flinken Fingern und langen Krallen. Blut war nicht das Einzige, worauf die Neugeborenen es abgesehen hatten. Entschlossen schwang er seinen Stock, das Böse abzuwehren.
Der Stelle gegenüber, wo Lulu getötet worden war, schlenderte ein dickhalsiger Vampir mit übergroßen Stiefeln umher. Halbherzig versuchte er den Eindruck zu vermeiden, er sei ein Constable, welcher ob der vagen Möglichkeit dort postiert worden war, dass sich die alte Sage vom Mörder bewahrheitete, der an den Ort seines Verbrechens zurückkehrt. Polizisten und Andenkenjäger hatten alle Spuren rings um den Türeingang der Kosminskis beseitigt. Er suchte sich die letzten Augenblicke des Vampirmädchens
zu vergegenwärtigen. Nun, da die morbiden Interessen eines Mannes im Umhang der Eintönigkeit seines Dienstes ein Ende bereitet hatten, kam der Constable schwerfällig auf ihn zu. Beauregard hatte sogleich seine Karte zur Hand. Der Neugeborene las die Worte Diogenes-Club und vollführte ein sonderbares Tänzchen mit Händen und Gesicht, halb Ehrengruß, halb Zähnefletschen. Dann trat er vor den Türeingang und beschirmte Beauregard vor den Blicken der Passanten wie einen Einbrecher.
Er stand genau an der Stelle,
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