Die Vampire
Murgatroyd«.
»Sollten sich unsere finstersten Befürchtungen bewahrheiten, so wird uns der schauderhafte Alfred Lord Tennyson auf Jahrhunderte hinaus als Poeta laureatus erhalten bleiben. Bei Gott, stellen Sie sich das vor: Locksley Hall - Sechshundert Jahre danach! Lieber tränke ich Essig, als in einem England zu leben, das etwas so Entsetzliches zulässt, und so habe ich mich denn nach einer gnädigen Alternative umgetan. Wäre es anders gekommen, Godalming, hätte ich wohl den Beruf des Dichters ergriffen, doch hat ein grausames Schicksal, nicht zuletzt mit hilfreicher Unterstützung durch den Prinzgemahl, mich an den Fels der Bürokratie gekettet, wo mir der Adler der Politik die Leber aus dem Leib reißt.«
Ruthven stand auf und wanderte zu seinen Büchergestellen, wo er innehielt, seine geliebten Bände zu betrachten. Der Premierminister war ohne weiteres in der Lage, längere Passagen von Shelley, Byron, Keats und Coleridge aus dem Stegreif herzusagen, und brachte sogar die eine oder andere Sentenz von Goethe oder Schiller auf Deutsch über die Lippen. Seine gegenwärtige
Vorliebe galt den Franzosen und der décadence. Baudelaire, de Nerval, Rimbaud, Rachilde, Verlaine, Mallarmé; die meisten von ihnen, wenn auch nicht alle, hätte der Prinzgemahl wahrscheinlich mit Freuden gepfählt. Godalming entsann sich, wie Ruthven verkündet hatte, ein dem Vernehmen nach skandalöser Roman - A Rebours von J. K. Huysmans - solle jedem Schulkind in die Hand gegeben werden; überdies würde er, Ruthven, in einem Utopia allein Dichter und Maler zu Vampiren machen. Es hieß indes, ein bezeichnender Umstand des Untoten-Daseins sei der, dass die schöpferischen Fähigkeiten dahinschwanden. Als stolzer Philister, der seine heimischen vier Wände lieber mit Jagdszenen schmückte als mit einer William-Morris-Tapete, hatte Godalming nie etwas verspürt, das auch nur im Entferntesten an eine künstlerische Neigung gemahnte, und konnte dieses Phänomen daher auch nicht bestätigen.
»Aber«, sagte der Premierminister und wandte sich um, »wer sonst unter uns Ältesten besitzt genug Verstand, zwischen Fürst Dracula und seinen Untertanen zu vermitteln, sein neues Reich der Lebenden und der Toten zusammenzuhalten? Der irrsinnige Sir Francis Varney vielleicht, den wir nach Indien verfrachtet haben? Wohl kaum. Ebenso wenig unsere heldenhaften Karpater: Iorga nicht, von Krolock nicht, Meinster nicht, Tesla nicht, Brastoff nicht, Mitterhaus nicht, Vulkan nicht. Und wie ist es mit dem Händeküsser Saint-Germain, dem vorwitzigen Villanueva, diesem Parvenü von Collins, dem unergründlichen Weyland, jenem Hanswurst von Barlow, dem schmierigen Duval? ›I hai me doots‹, wie der Schotte sagt, wahrlich, ›I hai me doots‹. Wer also bleibt? Der blasse, uninteressante Karnstein, der noch immer um sein verrücktes Mädel trauert? Und wo wir schon einmal dabei sind, wie steht es mit den Frauen? Gott, diese Vampirfrauen! Welch ein Pack schäumender Katzen! Lady Ducayne und Gräfin Sarah Kenyon stammen wenigstens aus England, auch wenn sie
zusammen über keine Unze Hirn verfügen. Aber Gräfin Zaleska von Rumänien, Ethelind Fionguala von Irland, Gräfin Dolingen zu Graz, Prinzessin Asa Vajda aus der Moldau, Elisabeth Bathory von Ungarn? Ich glaube, keine dieser blaublütigen Bordellieren wäre wohl willkommen, weder dem Prinzgemahl noch den Völkern Großbritanniens. Da könnte man die Aufgabe ja gleich jenen geistlosen Frauendingern antragen, die Dracula verschmähte, um sich mit der dicken Vicky zu vermählen. Nein. Von den Ältesten bleibt niemand außer mir. Hier stehe ich: Lord Ruthven, Wanderer zwischen den Welten, Schwärmer und Schöngeist. Ein Engländer, arm an Grund und Boden, lange fern von seiner Heimat, zurückbeordert, seinem Vaterland zu dienen. Wer hätte gedacht, dass ich je das Amt von Pitt und Palmerston, Gladstone und Disreali bekleiden würde? Und wer wollte mir darin wohl folgen? Après moi, le déluge, Godalming. Nach mir die Sündflut.«
8
Das Rätsel des Hansom
B eauregard schlenderte durch den Nebel, um all das zu verdauen, was er bei der gerichtlichen Untersuchung erfahren hatte. Er würde der herrschenden Clique vollständigen Rapport erstatten müssen; er musste die vorliegenden Tatsachen in eine Ordnung bringen.
Seine Unternehmungen waren keineswegs ziellos: Vom Arbeiterverein ging er die Whitechapel Road hinab, bog rechts in die Great Garden Street und schließlich links in die Chicksand Street. Er ließ
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