Die Vampire
unzählige Friedhöfe, Schreine, Kirchen, Kathedralen, Moscheen
und Tempel betreten. Jedes Mal hatte sie ein gewisses Erschaudern gespürt, den Kitzel, den ein ganz gewöhnlicher unbefugter Eindringling empfindet. Jetzt aber stand ihr etwas vollkommen anderes bevor. Sie befanden sich in der Viale Vaticano, vor einer Kirche, die zugleich eine Stadt war.
Die hohen Tore wurden von der Schweizergarde bewacht. Es war Abend, die Vatikanischen Museen hatten geschlossen. Touristen waren keine mehr zu sehen, aber die Gegend wimmelte von Priestern und Nonnen. Es mochte albern sein, aber ihr war unbehaglich. Sie hatte genug Geschichte miterlebt, um zu wissen, dass der Vatikan eine weltliche Institution war. Er hatte die Schande der spanischen Inquisition nur eingestanden, um damit die Erinnerung an die noch viel grauenhaftere römische Inquisition herunterzuspielen. Auf dem Papstthron hatten ebenso viele Mörder, Verbrecher und Perverse gesessen wie auf jedem anderen Thron auch.
Aber dies war die Kirche.
Geneviève stammte aus der Zeit vor der Reformation. Damals hatte es nur eine Kirche gegeben, diese. Unmittelbar nach ihrer Verwandlung war Geneviève exkommuniziert worden, wobei fraglich blieb, ob sie überhaupt noch als menschliches Wesen mit einer Seele zu gelten hatte.
»Nun komm schon, Gené.« Kate war natürlich protestantisch. Und behauptete obendrein, Agnostikerin zu sein.
Kate ergriff ihren Arm, und sie überquerten die Straße.
Würde beim Betreten des Staatsgebiets des Vatikan eher jemand wie sie in Flammen aufgehen, die im Glauben geboren und von ihm abgefallen war, und zwar weit, oder eine Heidin wie Kate Reed? Wo fing der heilige Grund an? Eigentlich hätte die Straße mit einer entsprechenden Linie markiert sein müssen. An irgendeiner Stelle überquerte Geneviève sie.
Ohne zu explodieren.
Irgendwo läuteten Glocken. Sie ging nicht so weit, dies als himmlisches Wunder einzustufen.
Die Soldaten der Schweizergarde verschränkten bedrohlich ihre Hellebarden. Kate erklärte, dass sie eine Verabredung mit einem gewissen Vater Merrin hätten.
Geneviève fiel auf, dass einer der Wachsoldaten ein Vampir war. Ohne Dracula waren eine Menge Karpater arbeitslos. Söldnerarmeen wie die Schweizergarde und die französische Légion d’Étranger würden einige überraschende Rekruten bekommen.
Den beiden wurde der Zutritt zu der berühmten Spiralrampe gestattet, die sich vom Straßenniveau zu den Ebenen des Museums und der Bibliothek hinaufschraubte. Von oben waren rasche Trippelschritte zu hören, und eine kleine blonde Frau kam sie begrüßen. Es war keine Nonne, sondern eine Laienarbeiterin mit züchtig bedeckten Haaren und gesenktem Blick. Irgendetwas an ihr war Geneviève nicht geheuer. Sie erklärte, ihr Name sei Viridiana, und bot an, sie zu Vater Merrin zu bringen.
Sie wurden durch die Korridore des Palazzetto del Belvedere geführt, tiefer in den eigentlichen Vatikan hinein. Sie eilten über den Cortile Ottagonale und ließen den öffentlich zugänglichen Bereich hinter sich, hatten nun Stein statt Marmor unter ihren Füßen. Geneviève hielt sich dicht bei Kate. Priester mit langen Gesichtern und Kardinäle in scharlachroten Gewändern schwebten vorbei wie Gespenster, und alle bedachten sie die hier eindringenden Nosferatu -Frauen mit finsteren Blicken.
Traditionellerweise war die Kirche absolut gegen ihre Art eingestellt. Die Vereinigung beim Bluttrinken wurde als blasphemische Verhöhnung der heiligen Kommunion betrachtet. Unvermittelt wurde Geneviève klar, dass der wahre Grund für die Feindschaft die Konkurrenz zwischen der Kirche und den Vampiren war. Wenn Dr. Pretorius Recht hatte und das Vampirdasein sich einer rationalen Erklärung entzog, dann besaß Geneviève
mehr demonstrierbare Wunderkräfte als ein Gemeindepriester, der gerade einmal Wein in Blut verwandelte. Und eine Institution, die mit einer künftigen Unsterblichkeit hausieren ging, musste ins Schwitzen geraten, wenn man ohne weiteres auch auf Erden unsterblich werden konnte.
Viridiana brachte sie in ein Kellergeschoss, ein Labyrinth aus verschlossenen Bücherschränken. Dies war nicht die Vatikanische Bibliothek, sondern eines der vielen nicht öffentlichen Archive der Kirche. Geneviève hatte Lust zu fragen, ob hier die pornografischen Schriften aufbewahrt wurden. In einiger Entfernung brannten ein paar Lampen, ansonsten herrschte Dunkelheit vor. Die Laienarbeiterin führte sie selbstsicher durch das Labyrinth, drückte alle
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