Die Vampire
Menge Interviewmaterial darüber bekommen, was für eine verdächtige ausländische Schlampe sie sei. Seit ihrer Ankunft in Rom hatte sie höchstens zweimal in Trastevere geschlafen. Den Großteil ihrer Zeit hatte sie in Marcellos Wohnung, bei Charles und Geneviève, unterwegs oder im Gefängnis verbracht. Dennoch musste sie eine überteuerte Rechnung begleichen, um ihren Koffer ausgehändigt zu bekommen.
Sie versuchte Marcello in seiner Wohnung anzurufen, aber er ging nicht ran. Sie graste die Via Veneto ab, konnte ihn aber in keinem seiner Stammlokale finden.
Es war natürlich klar, dass Marcello den anderen Reportern von ihr erzählt hatte. Nur so hatten sie ihr ja vor der Polizeiwache auflauern können. Das erklärte auch, warum er nicht dort gewesen war. Ganz abgesehen von dem, was sie vielleicht miteinander teilten, war sie eine Story, und schon deshalb hätte er dort
sein müssen. Immerhin hatte er genug Verstand, um sich dafür zu schämen, sie ihnen ausgeliefert zu haben.
Trotzdem, das würde sie ihm heimzahlen.
Während ihrer Zeit im Gefängnis hatte sich die Atmosphäre der Stadt verändert. In der Via Veneto ging es nicht mehr so ausgelassen zu wie vorher - in dem Sinne, dass die Straße jetzt beim Zug durch die Cafés ausgelassen wurde. Das Strega war fast ausgestorben. Die Vampirältesten waren fort, und auch die Neugeborenen machten sich rar. Wenn der scharlachrote Henker es darauf angelegt hatte, die Untoten aus der Stadt zu vertreiben, dann war ihm ein triumphaler Sieg gelungen.
Sie saß im Café und nippte an einem Glas Blut. Zu ihrer Erleichterung wurde sie in Ruhe gelassen. Das Gezerre um ihre Story war vorbei, die Presse hing längst jemand anderem im Nacken. Die Polizei hatte erklärt, Signorina Reed stehe nicht im Verdacht, am Tod von Prinz Dracula beteiligt gewesen zu sein. Damit hatte die Presse freie Bahn, sich die absurdesten Verschwörungen aus den Fingern zu saugen. Kate gefiel die Theorie von dem Karpatischen Wachgardisten, der von Rotchina per Gehirnwäsche zu einem Vampirmörder umgedreht worden war - da hätte sie noch eher daran geglaubt, dass die Jesuiten dahintersteckten.
Charles war tot, und nun auch Dracula. Ihre Vergangenheit wurde dem Erdboden gleichgemacht. Den einen Mann hatte sie geliebt, den anderen gehasst, aber beide hatten eine Welt geformt, in der Kate sich auskannte. Eine Welt, in der sie einen Platz hatte, einen Grund, Pflichten, Bindungen. Die Schnüre, die sie an ihrem Platz im Universum hielten, wurden eine nach der anderen durchtrennt.
Fühlten sich Älteste mit der Zeit so? Alles, was sie kannten, verging. Sie allein blieben übrig, eingesperrt in ihre Schädel, verloren in einer Welt der automatischen Toaster und der Fernsehwerbung.
Sie kam sich klein und verloren vor. Und hatte Angst, durchaus.
»Die Antworten auf solche Rätsel lassen sich oft unter den Sohlen unserer Schuhe finden.«
Vater Merrins Bemerkung ging ihr nicht aus dem Kopf. Er hatte den Satz leicht betont, hatte gewollt, dass sie sich daran erinnerte, darüber nachdachte.
Was war unter den Sohlen ihrer Schuhe?
Ein gefliester Boden. Nicht allzu sauber.
Und darunter?
Ganz unten schließlich Erde und Felsgestein und Magma.
Katakomben, Ruinen, Höhlen, Grüfte, Zellen, Keller. Sogar Nachtclubs. Ständig war sie unter der Erde gelandet. Rom war wie ein Eisberg. Nur ein Bruchteil davon war zu sehen.
Was lebte unterhalb von Rom?
Oder wer?
»Überall sind Tränen«, hatte Santona gesagt. »Aus den Steinen der Stadt quellen Tränen hervor.«
An Santona musste sie auch immer wieder denken, an ihre Worte über Mater lachrymarum, die Mutter der Tränen. Die Wahrsagerin hatte eine Verbindung zwischen dieser Mythengestalt und dem Mädchen angedeutet, von dem Kate in Draculas Gruft geführt worden war. Das hübsche, boshafte Gesicht der Kleinen stand ihr noch immer vor Augen. Alles andere hier in Rom mochte sterben, aber dieses kleine Mädchen würde weiterleben. Kate hatte das Gefühl, dass es sich um ein uraltes Wesen handelte: nicht um einen Vampir, sondern um so etwas wie einen Elementargeist, unsterblich, grausig.
Eine Mutter musste eine Tochter haben. Bei diesem Gedanken landete Kate immer wieder. Santona hatte gesagt, das Mater lachrymarum
nicht die Mutter des Mädchens sei, sondern die Mutter der Stadt.
Wie konnte Rom eine Mutter haben? In der Schule hatte Kate gelernt, dass die Stadt zwei Väter hatte, Romulus und Remus. Von einer Mutter war keine Rede gewesen, höchstens
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