Die Vampire
man wollte die Wölfin so nennen, sie hatte die Zwillinge gesäugt.
Kate war ganz aufgewühlt. Da war nicht nur Angst in ihr, sondern auch Neugierde, ein Bedürfnis zu wissen, zu verstehen. Eine Unruhe, die ihr schon seit ihren warmblütigen Tagen vertraut war, vielleicht das Grundgefühl ihres Lebens.
Charles’ Tod hatte sie aus der Bahn geworfen. Aber vielleicht hatte Draculas Ende sie mit einem Ruck wieder auf Kurs gebracht. Etwas Neues schwang in dem Gefühl mit, etwas, das sie noch nie empfunden hatte. Sie wollte jetzt nicht weiter darüber nachdenken, aber sie war frei. Ohne Dracula konnte die Welt tun und lassen, was sie wollte. Und ohne Charles konnte auch Kate Reed das.
Sie weinte heiße Tränen.
Sie war noch nicht bereit, so frei zu sein, so allein. Es war, als ob man die Schule hinter sich ließe, sein Zuhause, die Gesellschaft. Als ob sie keine Vorgaben mehr hätte, keine Maßstäbe, nur noch sich selbst.
Ihre Tränen trockneten.
»Kate.« Jemand setzte sich an den Tisch, ergriff ihre Hände.
Marcello? Trotz ihrer Wut auf ihn machte ihr Herz einen Satz.
Es war Geneviève. Sie versuchte, nicht enttäuscht zu sein.
»Kate, wie geht es dir? Ich dachte, du wärst immer noch auf der Wache.«
»Mir geht’s gut.« Sie zog ihre Hände zurück.
»Du wirst nicht glauben, was ich für einen Tag hatte.« Geneviève winkte einem Kellner. »Ich musste Draculas Kopf identifizieren.«
Kate verzog mitfühlend das Gesicht.
»Er ist nicht verwest«, sagte Geneviève. »Das verblüfft alle. Normalerweise holt das Alter die Ältesten ein, wenn sie sterben. Die meisten Opfer des scharlachroten Henkers sind nur noch Staub mit merkwürdigen Farben darin. Dracula sieht ganz frisch aus.«
»Als Nächstes heißt es dann, er wäre ein Heiliger. Von denen sollen doch auch manche nicht verwest sein.«
»Über Dracula ist so ziemlich alles gesagt worden, was man nur sagen kann, das kannst du glauben. Du hättest die Zeitungen sehen sollen.«
»Ich bin gerade dabei. Es ist faszinierend, wie ein gewaltsamer Tod einen adelt. Sämtliche Leute, die letzte Woche noch vor Hass gekocht haben, machen allen Ernstes eine Kehrtwende und ehren ihn jetzt als großen Staatsmann und bedeutende Gestalt in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Irgendjemand muss auf die Nachricht doch damit reagiert haben, dass er sich einen Lampenschirm aufgesetzt und ›Ding-Dong, die Hex’ ist tot‹ gesungen hat.«
Genevièves Getränk wurde gebracht, und sie bestellte noch eines für Kate.
Sie sahen einander an, wussten nicht, was sie sagen sollten.
»Er fehlt mir«, gestand Geneviève schließlich.
Kate nickte. »Mir auch.«
Sie meinten nicht Dracula.
»Ich weiß nicht, wie ich es mir vorgestellt habe, dass es sein würde«, sagte Geneviève. »Es ist ja nicht so, dass ich nicht gewöhnt wäre, dass die Leute um mich herum wegsterben. Aber Charles war immer da, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Das tue ich.«
Wie gut, dass sie sich bereits ausgeweint hatte.
»Es sind zu viele Rätsel übrig geblieben, Kate. Das hätte Charles gar nicht gefallen. Der scharlachrote Henker und dein kleines Mädchen. Und Dracula. Wer hat Dracula getötet?«
»Ich war’s nicht.«
»Ich weiß.«
»Ich hätte es sein sollen. In gewisser Weise wünsche ich mir, ich hätte ihn getötet. Hätte diese ganzen Kompromisse beiseiteschieben und beschließen können, dass dieser Mann es nicht verdient hat weiterzuleben, und ihm dann das Herz durchbohrt und den Kopf abgeschnitten. Ich sehe es richtig vor mir, wie ich das tue, aber ich weiß, dass ich es nicht war. Ich habe keine Ahnung, ob ich mich dafür schuldig fühlen soll, dass ich ihn nicht gerettet habe, oder dafür, dass ich ihn nicht getötet habe. Ich spüre immer noch sein Blut an mir, unter der Haut.«
»Wenn ich helfen kann, Kate, dann sag mir, wie.«
Sie nahm Genevièves Hand.
»Es gibt da jemanden, den ich gern besuchen möchte, mit dem ich reden will. Kannst du mich begleiten?«
»Selbstverständlich.«
»Unsere Art ist dort nicht willkommen.«
Geneviève war einen Moment verwirrt, dann begriff sie.
28
L’Esorcista
E s war reinster Aberglaube anzunehmen, ein Vampir wäre nicht in der Lage, über geweihten Boden zu gehen. Jeder Quadratzentimeter war irgendwann einmal irgendeinem Glauben geweiht worden. Keine heilige Erde betreten zu können, wäre darauf hinausgelaufen, auf offener See zu leben, außerhalb der Hoheitsgewässer. Über die Jahrhunderte hinweg hatte Geneviève
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