Die Vampire
Wir verstehen menschliches Leben nicht. Wir können der Formel nahekommen. Wir können Leben in Einmachgläsern herstellen. Wir können totes Gewebe wiederbeleben. Wir können versuchen, unsere Seelen an den Teufel zu verkaufen, was immer das nützen mag. Wir können alles bekommen, nur keine Antwort, aus der man schlau wird.«
»Ich weigere mich, das zu akzeptieren.«
»Weigern Sie sich, so viel Sie wollen, West. Ich bin schließlich um einiges länger dabei als Sie. Ich habe schon vor vielen Jahren gelernt, dass es sinnlos ist, nach Erklärungen zu suchen. Je tiefer man in die Materie eindringt, desto weniger wird man daraus schlau, desto mehr Widersprüche tauchen auf.«
»Sie fa-fa-fallen in die Alchemie zurück«, stotterte West. »Was kommt als Nächstes, He-he-he-hexerei?«
Pretorius grinste wie ein Wasserspeier. »Wenn das der Weg ist, den wir einschlagen müssen. Aber selbst die Hexerei stellt einen Versuch dar, eine Systematik ins Unbekannte zu bringen. Vielleicht müssen wir akzeptieren, dass es gar keine einleuchtende Erklärung gibt. Das Universum ist extrem unbeständig, es verändert sich vom einen Moment zum nächsten, springt von Katastrophe zu Schöpfung.«
»Alles lässt sich verstehen, darauf hat Einstein beharrt …«
»Am Ende aber nicht mehr. Am Ende beharrt niemand mehr darauf zu verstehen. Man kann von Viren und Radiumablagerungen oder von Dämonen und Kobolden faseln, so viel man will, Tatsache ist, dass es Kreaturen gibt, die kein Spiegelbild haben. Das lässt sich nicht erklären. In den achtzig Jahren, die die Welt jetzt gezwungen ist zu akzeptieren, dass es so etwas wie Vampire wirklich gibt, sind daran schon größere Geister als Sie gescheitert, Herbert West. Wen interessieren da die Gesetze der Optik und Refraktion? Oder sonst irgendein naturwissenschaftliches Gesetz? Das kümmert niemand auch nur einen feuchten Dreck. Dinge, die es gar nicht geben kann, gibt es eben doch. Wenn irgendwelche Götter existieren, dann sind sie entweder verrückt oder schwachsinnig. Diese Frau hier widersteht allen Ihren Versuchen, zu messen, zu berechnen, zu kategorisieren, zu definieren, schubladisieren oder kastrieren. Und was wollen Sie dagegen tun, blöken?«
»Sie irren sich«, sagte West ruhig.
»Ich glaube nicht«, sagte Pretorius.
Geneviève schwirrte der Kopf. Etwas an Pretorius’ Leidenschaft bereitete ihr Unbehagen. Mochte es sein, dass sie tatsächlich fürchtete, er könne Recht haben? Sie war der jugendlichen Angst entwachsen, womöglich eine verdammte Seele zu sein. Aber wenn sie kein Wesen der Naturwissenschaft war, was war sie dann? Was blieb dann noch?
»Auf die große Leere.« Pretorius hob seine Ginflasche. »Auf das Chaos, das wir lieben lernen müssen.«
»Mademoiselle Dieudonné soll hier eine Identifizierung vornehmen«, sagte Ginko, der das Streitgespräch ruhig mit angehört hatte.
Pretorius griff unter eine schwarze Decke und holte etwas hervor. Es war Draculas Kopf, noch unverwest, mit zornigen Augen.
»Ist er das?«
Geneviève nickte.
»Sie müssen es aussprechen«, sagte Pretorius. »Offiziell.«
»Das ist Dracula«, sagte sie.
»Quelle surprise.« Pretorius warf den Kopf beiseite wie eine Rübe. »Ich spekuliere nicht gern, ohne vorher meinen geschätzten Kollegen West konsultiert zu haben, aber ich denke, man kann wohl mit Sicherheit sagen, dass der alte Hund endgültig tot ist. Sonst noch was?«
Geneviève sah zu dem Sergeant. Er zuckte die Schultern.
»Ich glaube, dann können Sie mich machen lassen«, sagte Pretorius. »Sie bekommen meinen Untersuchungsbericht nächste Woche. Ich bezweifle, dass Sie etwas damit anfangen können - oder sonst irgendjemand. Guten Tag.«
Sie wurden hinauskomplimentiert.
27
Profondo Rosso
E ine Zeit lang war es ein Alptraum. Dass Kate die Jagd schon aus der Sicht der Meute kannte, half kein bisschen. Sie machte sämtliche Dummheiten, die sie bei Leuten beobachtet hatte, denen Reporter auf den Leib rückten. Verbarg ihr Gesicht hinter den Händen, sah auf ihre Schuhe hinab und versuchte auf einer unsichtbaren geraden Linie durch das Gedränge zu gehen. Brachte als Antwort auf die zunehmend direkten und unhöflichen Fragen, die nach ihr ausgeworfen wurden wie Angelhaken, kaum so viel wie »Kein Kommentar« heraus. Sie musste so schuldig wirken wie Judas.
Sie kam gerade rechtzeitig in die Pension zurück, um hinausgeworfen werden zu können. Die Presse war schon dort gewesen und hatte von der Familie der Wirtin jede
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