Die Vampire
OKTOBER
I ch spüre ihren heißen Atem im Nacken. Hätte Beauregard ihr nicht den Garaus gemacht, so hätte mich die Stride identifiziert. Auch andere müssen mich gesehen haben, wie ich meinen nächtlichen Geschäften nachging: Zwischen der Stride und der Eddowes lief ich in panischem Schrecken durch die Straßen, blutbesudelt und mit einem Skalpell in der Faust. Beinahe wäre ich ihnen ins Netz gegangen. Ich hatte mir eben an der Stride zu schaffen gemacht, als ein Karren vorüberdonnerte. Das Pferd schnaubte wie der Teufel. Ich nahm Reißaus, in der Gewissheit, die Karpatische Garde sei mir auf den Fersen. Es grenzt an ein Wunder, aber der Fuhrmann hat mich nicht gesehen. Laut Times handelte es sich bei der »Person aus Porlock« um Louis Diemschütz, einen jener jüdischen Sozialisten, die im Internationalen Arbeiterbildungsverein zusammenkommen. Bei der Eddowes hatte ich mehr Glück. Ich hatte mich so weit beruhigt, dass ich mit ihr einen Handel anfangen konnte. Sie kannte mich und vertraute mir. Besser hätte ich es gar nicht treffen können. In ihrem Fall war die Entbindung ein Erfolg.
Wahrlich, ich halte die Entbindung der Eddowes für meine bis dato größte Tat. Nachdem ich sie vollbracht hatte, war ich die Ruhe selbst. Um meine Verfolger auf eine falsche Spur zu setzen, hinterließ ich an einer Mauer eine Mitteilung. Ich ging zur Hall zurück, wechselte in Windeseile meine Kleider, so dass ich dem Eintreffen der Polizei gefasst entgegensehen konnte. In toto habe ich gute Arbeit geleistet, was die Unannehmlichkeiten mit der Stride betrifft. Mit Augenmaß und Silberkugel hat Beauregard mein Werk vollendet. Ich habe mich schon seit Monaten nicht mehr so wohlgefühlt wie jetzt. Der Schmerz in meiner Hand hat nachgelassen. Ich frage mich, ob dies nicht auf den Aderlass zurückzuführen ist. Seit die Kelly sich von mir genährt hat, geht der Schmerz stetig zurück. Ich habe unsere Akten nach der Kelly durchforscht und eine Adresse unweit der Dorset Street entdeckt. Ich muss sie dringend ausfindig machen und noch einmal um ihre Gefälligkeit ansuchen.
Unterdessen kursieren so viele, von törichten Nachrichten an die Presse mit Feuerung versehene Märchen über den Ripper, dass ich mich dahinter unbemerkt verstecken kann, auch wenn bisweilen ein Gerücht der Wahrheit unerfreulich nahe kommt. Schließlich heiße ich wahrhaftig Jack.
Heute gestand mir ein Patient, ein ungebildeter Einwanderer namens David Cohen, dass er Jack the Ripper sei. Ich übergab ihn der Polizei, und er wurde in einer Zwangsjacke nach Colney Hatch verbracht. Lestrade zeigte mir einen Aktendeckel voll mit ähnlichen Geständnissen. Die Schwachsinnigen stehen Schlange, um sich meiner Entbindungen zu rühmen. Und irgendwo dort draußen sitzt auch der Briefschreiber glucksend über seiner törichten roten Tinte und seinen neckischen Späßen.
»Ganz der Ihrige, Jack the Ripper«? Ist der Briefschreiber womöglich jemand, den ich kenne? Weiß er vielleicht etwas von mir? Nein, er begreift sie nicht, meine Mission. Ich bin kein irrsinniger
Possenreißer. Ich bin ein Chirurg, der krankhaftes Gewebe entfernt. Das hat mit »Jux und Dollerei« nicht das Geringste zu tun.
Geneviève bereitet mir große Sorgen. Bei anderen Vampiren ist das Gehirn in eine Art von rotem Nebel gehüllt, nicht jedoch bei ihr. In The Lancet las ich einen Artikel von Frederick Treves, in dem er über das Wesen des Geblütes spekuliert und sich mit allergrößter Diskretion in Andeutungen darüber ergeht, dass dem vom Prinzgemahl ins Land getragenen königlichen Geschlecht etwas Unreines anhaften möchte. Viele von Draculas Nachkommen sind verbogene, selbstzerstörerische Kreaturen, zerrüttet von ihren die Gestalt wandelnden Leibern und unbezähmbaren Begierden. Alle Welt weiß, wie schlecht es um das königliche Blut bestellt ist. Geneviève hingegen besitzt einen Verstand so scharf wie ein Skalpell. Manchmal weiß sie sogar, was Menschen denken. In ihrer Gegenwart versuche ich, mich auf meine Patienten, auf Listen und Stundenpläne zu besinnen. Doch hat jegliche Ideenassoziation ihre Tücken: Bei der Behandlung der Wunden einer Neugeborenen, die von einem Fuhrwerk überrollt worden war, kamen mir jene Wunden ins Gedächtnis, die ich anderen Neugeborenen beigebracht habe. Nein, nicht Wunden. Einschnitte. Chirurgische Einschnitte. Es liegt kein Hass, kein Groll in dem, was ich tue.
Bei Lucy beherrschte mich die Liebe. Dies hingegen ist beherrscht allein vom
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