Die Vampire
nach zu urteilen, die vom Kragen beinahe bis zum Ohr hinaufreichten, hatte sich ein Vampir an ihm gütlich getan.
»Die Königin persönlich hat ihrer Betroffenheit Ausdruck verliehen. Wenn sie anordnet, wir sollen einen Mörder fassen, dann …«
»Der Ripper könnte ein Anarchist gleich welcher Parteifarbe sein«, überlegte sie. »Oder aber ein verblendeter Vampirhasser.«
»Letzteres ist gewiss.«
»Warum ist sich alle Welt so sicher, dass der Ripper Warmblüter ist?«, fragte Geneviève.
»Die Opfer waren allesamt Vampire.«
»Das sind viele. Die Opfer waren ebenso allesamt Frauen, allesamt Prostituierte, allesamt arm und hilflos. Es ließen sich allerlei Verbindungen zwischen ihnen herstellen. Der Ripper geht ihnen immer an die Kehle; das ist typisch für einen nosferatu.«
Der Polizist wurde allmählich unruhig. Geneviève machte ihn
nervös. Beauregard vermutete, dass er nicht der Einzige war, auf den sie solch eine Wirkung ausübte.
Er widersprach ihrer Theorie. »Nach dem, was wir aus den Obduktionen ersehen konnten, wurden die toten Frauen weder gebissen noch zur Ader gelassen. Im Übrigen wirkt das Blut eines Vampirs auf einen anderen Vampir nicht eben anziehend.«
»Das stimmt nicht ganz, Mr. Beauregard. Wir werden zu dem, was wir sind, weil wir das Blut eines anderen Vampirs getrunken haben. Es geschieht zwar nicht allzu häufig, aber wir zapfen einander durchaus an. Manchmal beweist ein kleiner Tyrann seine Vormachtstellung innerhalb der Gruppe, indem er von seinen Anhängern den Blutzoll fordert. Manchmal ist Vampirblut das einzige Heilmittel für die von verdorbenem Geblüt. Und manchmal ist der wechselseitige Aderlass natürlich nichts weiter als ein Geschlechtsakt, wie bei gewöhnlichen Menschen auch …«
Beauregard errötete infolge ihrer Offenheit. Das Gesicht des Polizisten glühte, und er rieb seine brennenden Wunden.
»Vlad Tepes’ Blut ist befleckt«, fuhr sie fort. »Nur ein rechter Dummkopf würde aus einer solchen Quelle trinken. Aber London ist voller kranker Vampire. Der Ripper könnte leicht einer von ihnen sein oder aber ein grollender Warmblüter.«
»Ebenso könnte er es jedoch auf das Blut der Frauen abgesehen haben, weil er selbst untot werden will. In ihren Adern strömt ein Jungbrunnen. Wenn es sich bei unserem Ripper um einen kranken Warmblüter handelt, ist er womöglich verzweifelt genug, derlei Maßnahmen zu ergreifen.«
»Es gibt weitaus bequemere Möglichkeiten, zum Vampir zu werden. Was natürlich viele mit nicht ungesundem Misstrauen erfüllt. Ihr Einwand hat durchaus seine Berechtigung. Aber warum so viele Opfer? Eine Fangmutter würde vollauf genügen. Und warum Mord? Jede dieser Frauen hätte ihn für einen Shilling bereitwillig verwandelt.«
Sie kehrten dem Platz den Rücken und ließen sich zur Commercial Street zurücktreiben. Der ganze Fall kreiste um diese Straße. Sowohl Annie Chapman als auch Lulu Schön waren in einer ihrer Seitengässchen ums Leben gekommen. Die Polizeiwache, von der aus die Ermittlungen geführt wurden, befand sich dort, das Café de Paris und nicht zuletzt auch Toynbee Hall. Irgendwann im Laufe der vergangenen Nacht musste der Ripper die Commercial Street überquert haben, ja, war auf seinem Weg nach Limehouse und den Docks womöglich gar mit einem blutverschmierten Messer in der Manteltasche ihre Verlängerung südlich der Whitechapel High Street, die Commercial Road, entlanggebummelt. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, der Mörder sei ein Seemann.
»Vielleicht ist er auch nur ein einfacher Verrückter«, gab Beauregard zu bedenken, »der ebenso wenig über ein Anliegen verfügt wie ein Orang-Utan mit einem Rasiermesser.«
»Glaubt man Dr. Seward, so handelt es sich bei Geisteskranken keineswegs um einfache Gemüter. Obgleich ihre Taten sinnlos und willkürlich erscheinen mögen, unterliegen sie doch immer einem System. Betrachten Sie die Angelegenheit von einem Dutzend verschiedener Warten, und schließlich werden Sie beginnen zu verstehen, werden Sie die Welt mit den Augen eines Geisteskranken sehen.«
»Und dann können wir ihn fassen?«
»Oder wie Dr. Seward sagen würde, ›heilen‹.«
Sie passierten einen Anschlagzettel, auf dem die Namen all jener Angeklagten verzeichnet waren, die man neuerdings öffentlich auf Holzspiere gespießt hatte. Tyburn war ein einziger Wald von gepfählten Dieben, Stutzern und Meuterern.
Beauregard dachte nach. »Ich fürchte, für diesen Geisteskranken gibt es nur eine
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