Die Vampire
Zeigefinger anschaulich zu machen suchte. »Nicht mehr als ein Hauch.«
Charles lächelte, was er nur selten tat. So sah er gleich viel besser aus. Charles Beauregard hielt sich verschlossen. Zwar konnte sie keineswegs Gedanken lesen, doch war sie überaus empfindsam. Charles schien immerzu darauf bedacht, seine Gedanken für sich zu behalten. Ein Kniff, der sich nicht von selbst erlernte; offenbar hatte sein Leben im Dienste des Diogenes-Clubs ihn diese Fähigkeit gelehrt. Sie hatte ganz den Eindruck, als sei der höfliche Gentleman an ihrer Seite ein alter Hase, was das Bewahren von Geheimnissen anging.
»Haben Sie schon die Zeitungen gelesen?«, fragte er. »Es hat eine neuerliche Mitteilung von Jack the Ripper gegeben. Eine Postkarte.«
»›Dieses Mal doppelter Erfolg‹«, zitierte sie.
»Ganz recht. ›Hatte keine Zeit, der Polizei die Ohren mitzunehmen. ‹«
»Hat er denn nicht versucht, Cathy ein Ohr abzuschneiden?«
Charles hatte sich Dr. Gordon Browns Bericht offenbar genauestens eingeprägt. »Es gab eine derartige Verletzung, aber sie ist vermutlich im Eifer des Gefechts entstanden. Ihr Gesicht war beträchtlich verstümmelt. Selbst wenn es sich bei unserem Briefschreiber nicht um den Mörder handelt, so verfügt er doch womöglich über eine eingeweihte Quelle.«
»Wie zum Beispiel einen Zeitungsschreiber?«
»Das wäre eine Möglichkeit. Dass die Briefe an die Central News Agency gesandt wurden und demzufolge allen Zeitungen zur Verfügung stehen, ist ungewöhnlich. Es gibt wohl kaum einen Menschen, der nicht unmittelbar mit der Presse assoziiert ist und dennoch weiß, was eine Nachrichtenagentur ist. Wären die Briefe an ein bestimmtes Journal gesandt worden, würden nur wenige Zeitungsschreiber aus diesem coup ihren Profit ziehen können.«
»Und ebenfalls unter Verdacht geraten?«
»Exakt.«
Unterdessen waren sie in der Stadt angekommen. Breite, hell erleuchtete Straßen; Häuser, zwischen denen sogar Bäume und Rasenflächen Platz fanden. Hier war alles sehr viel sauberer. Wenngleich Geneviève an einem Square drei auf Pfähle gespießte Leichname erblickte. Kinder spielten in den Büschen rings um die Gepfählten Versteck, rotäugige kleine Vampire, die, sowie sie ihre feisten Spielgefährten ausfindig machten, einander mit spitzen Zähnen zärtliche Zwicke versetzten.
»Wen werden wir aufsuchen?«, fragte sie.
»Einen Mann, der Ihnen bestimmt gefallen wird. Dr. Henry Jekyll.«
»Der Naturforscher? Er war bei der Untersuchung des Falles Lulu Schön zugegen.«
»Ebender. Er kennt keine Götter außer Darwin und Huxley. Keinerlei Magie findet den Weg über seine Schwelle. Und wo wir schon einmal von Dr. Jekylls Schwelle sprechen, will ich hoffen, dass wir diese erreicht haben.«
Der Wagen hielt. Charles stieg aus und half ihr herunter. Sie vergaß nicht, dabei ihr Kleid zu raffen und sich aufzurichten. Er befahl dem Kutscher zu warten.
Sie befanden sich an einem Platz, der umringt war von hübschen alten Häusern, die jedoch überwiegend bessere Tage gesehen haben mochten und deren Räumlichkeiten nun an Leute von allerlei Rang und Stand vermietet waren: Landkartenstecher, Architekten, Karpater, Winkeladvokaten und die Kommissionäre obskurer Handelsunternehmungen. Das Gebäude gleich neben dem Eckhaus hingegen schien von nur einer Partei bewohnt. Als sie an der Eingangstüre angekommen waren, die einen stolzen Hauch von Reichtum und Luxus verströmte - wenngleich sie nun im Dunkeln lag und allein durch die Lünette erhellt wurde -, klopfte Charles. Ein ältlicher Diener öffnete. Charles präsentierte ihm seine Karte, die ihm freien Zugang zu jeglicher Behausung oder Institution des Landes zu gewähren schien.
»Und das ist Miss Dieudonné«, erklärte Charles, »die Älteste.«
Der Diener nickte und geleitete die Besucher in eine geräumige, komfortable Halle voller kostbarer Eichenschränke; sie war mit Steinplatten ausgelegt und wurde nach Landhausart von einem hellen, offenen Feuer beheizt.
»Dr. Jekyll befindet sich in Gesellschaft des anderen Gentleman im Laboratorium, Sir«, sagte der Diener. »Ich werde Sie melden.«
Er verschwand in einen anderen Flügel des Hauses und ließ Geneviève und Charles in der Halle zurück. Im Dunkeln konnte sie besser sehen. Seltsame Formen und Farben flackerten im Widerschein des Feuers über die polierten Eichenschränke und warfen unruhige Schatten an die niedrige Decke.
»Dr. Jekyll hält offenbar nicht allzu viel von elektrischem
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