Die Verbannung
klar machen, was das bedeutete und warum die Tatsache, dass sie immer noch oft an Dylan dachte, nicht notwendigerweise hieß, dass sie ihren Mann nicht mehr liebte. Seufzend legte sie die Hähnchenteile in die Auflaufform, übergoss sie mit italienischem Soßendressing und schob alles in den Backofen. Dabei blinzelte sie ein paarmal, um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Sie vermisste Dylan auf eine Art, die sie einfach nicht erklären konnte. Während das Hähnchen im Ofen gar-te, hantierte sie in der Küche herum, weil sie nicht ins Wohnzimmer zurückgehen und sich Rays vorwurfsvollen Blicken aussetzen wollte.
Das Essen verlief schweigend, bis Ray brummte: »Schmeckt prima« - rayanisch für >tut mir Leid<.
»Danke«, erwiderte sie - codyanisch für >Entschuldigung angenommen<. Ray half ihr beim Abwaschen, was nur alle Jubeljahre einmal vorkam, deswegen verbrachte sie den Rest des Abends mit ihm vor dem Fernseher, anstatt die Nase in ein Buch zu stecken. Ausgleichende Gerechtigkeit. Trotzdem hatte sie den nächsten Tag bereits vollständig verplant. Raymond würde sich damit abfinden müssen, es gab nämlich noch eine Informationsquelle, die sie bislang noch nicht angezapft hatte.
Dylans Mutter lebte auf der anderen Seite des Drakes's Creek in dem Nobelviertel, in dem sich im Laufe der letzten Jahre einige Stars der Countrymusic und andere Leute mit Geld auf dem Bankkonto niedergelassen hatten. Die Mathe-sons waren eine alteingesessene Familie, die ihre Wurzeln bis zum Bürgerkrieg und zu den ersten Siedlern in Tennessee zurückverfolgen konnte. Dazu kam noch, dass Mrs. Matheson Indianerblut in den Adern hatte. Obwohl Cody in dieser Gegend aufgewachsen war, die damals nur aus Farmland bestanden hatte, und nie den Wunsch verspürt hatte, aus dieser Stadt wegzuziehen, pflegte sie häufig zu scherzen, sie würde immer noch auf der falschen Seite des Creeks leben, obwohl sich ihre Verhältnisse beträchtlich gebessert hätten. Ray hörte das nicht gern, er fasste diese Bemerkung als verhaltene Kritik an seinem Gehaltsscheck auf, doch sie zuckte dann stets die Schultern und erklärte ihm, es gäbe wichtigere Dinge auf der Welt als Geld.
Trotzdem kam sie sich klein und schäbig vor, als sie die Stufen zur Veranda der weißen Vorkriegsvilla emporstieg, die Dylans Eltern gehörte, und an die Tür klopfte.
Während sie wartete, blickte sie über die dünne Schneedecke hinweg, die den Boden bedeckte, und kuschelte sich enger in ihre Lederjacke. Als Kind hatte sie oft hier gespielt. Damals war das Land kaum bebaut gewesen; offene Felder und Wälder hatten sich um dieses Haus herum erstreckt. Nun hatte die Stadtverwaltung hier eine Wohnsiedlung mit lauter Einfamilienhäusern errichtet, die wie Puppenhäuschen aussahen. Das baufällige Farmhaus, in dem sie ihre Kindheit erlebt hatte, war während ihrer Collegezeit abgerissen und das Gelände als Bauland erschlossen worden. Ihre Eltern hatten sich von dem Geld, das sie für ihr Haus bekommen hatten, ein Apartment in Louisville gekauft. Cody seufzte. Manchmal wünschte sie, sie könnte das Rad der Zeit zurückdrehen oder wenigstens anhalten.
Im Haus rührte sich nichts. Sie klopfte noch einmal und wartete geduldig. Der Wind hatte welke braune Herbstblätter unter ein grünes Holzboot geweht, mit dem seit Jahren niemand mehr auf dem Wasser gewesen war. Die Farbe blätterte ab, und auf dem Holz lag eine dicke Staubschicht. Ansonsten war die steinerne Veranda leer. Die Februarkälte ließ Cody frösteln. Sie schlug den Kragen ihrer Jacke hoch. Sie wusste, dass Mrs. Matheson daheim war, denn ihr dunkelgrüner Jeep stand in der Einfahrt. Dylans Vater war um diese Zeit bestimmt in der Arbeit. Sie klopfte noch einmal, diesmal wesentlich energischer.
Endlich wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet. »Ja bitte?«
Cody spähte ins Haus, und ihr Herz wurde schwer. Sogar durch den schmalen Spalt konnte sie die Blutergüsse in Mrs. Mathesons Gesicht erkennen. Eine Seite war dunkellila verfärbt, das Auge fast zugeschwollen. »Mrs. Matheson? Ich bin's nur. Kann ich hereinkommen?«
»Cody? Ich weiß nicht...«
»Mrs. Matheson, es geht um ...« Sie wollte gerade sagen, es ginge um Dylan, als ihr einfiel, dass Dylans Mutter nicht wusste, was geschehen war. Sie glaubte, ihr Sohn sei in Schottland Opfer eines Raubmordes geworden. Stattdessen erklärte sie hastig: »Ich stelle ein paar Nachforschungen über Dylans Vorfahren an ... Wir haben vor seinem ... nun, wir haben darüber
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