Die Verbannung
die denen eines verwundeten Vogels glichen, machte ein Stock noch verzwickter, der ihm dauernd zwischen die Beine kam und ihn behinderte. Stefano sah ihn wieder vor sich – er brauchte nur an die Macht der Sonne damals zu denken – und fühlte wieder die gleiche Beklommenheit; wirkliche Beklommenheit aber erwächst aus Verdruß, und diese Erinnerung konnte ihn nicht verdrießen. Das nackte Fleisch erschien wieder und wieder zwischen diesen Fetzen aus Sackleinen, wehrlos und obszön wie das Fleisch einer Wunde: der wahre Leib dieses alten Mannes waren seine Lumpen und sein Schmutz, sein Bettelsack und sein Schorf; und unter alledem da und dort nacktes Fleisch zu erblicken, war schauerlich. Dem Alten wieder zu begegnen, mit ihm umzugehen, über sein Übel Bescheid zu wissen und seine eintönigen Klagen darüber zu hören, hätte Stefano vielleicht schließlich Verdruß und Plage bedeutet. Jetzt aber phantasierte er nur über ihn, verwandelte ihn auf dieser knochentrockenen Straße ganz allmählich zu etwas Exotischem, irgendwie Grauenvollem, zu etwas, das dem rachitischen Geknäuel eines Feigenkaktus glich und doch mit dem Schorf auf seinen Gliedern anstelle von Blättern etwas Menschliches war. Sie waren grausam, diese fetten Hecken in ihrer fleischigen Massigkeit, als wisse die Dürre dieser Erde von keinem anderen Grün, als seien diese gelblichen Feigen, die die Blätter krönten, wirkliche Fleischfetzen.
Stefano hatte sich of ausgemalt, daß das Herz dieser Erde nur von diesem Saf genährt werde und im Inneren jedes Menschen dieses grünliche Geknäuel verborgen sei. Auch in Giannino. Und er mochte seine diskrete und schweigsame Gesellschaf um ihrer männlichen Zurückhaltung willen. Er, Giannino, war der einzige, der Stefanos Einsamkeit mit den Dingen, die unausgesprochen blieben, zu beleben vermochte. So herrschte zwischen ihnen jedes Mal die unveränderliche Fülle einer ersten Begegnung.
Seinerzeit hatte er ihm auch von dem Bettler gesprochen, Gianninos Augen waren klein geworden, und er hatte geantwortet:
»So armselige Bettler haben Sie wohl noch nie gesehen?« »Jetzt verstehe ich erst, was ein Bettler ist.«
»Wir haben ihrer so viele«, hatte Giannino gesagt. »Hier bei uns wuchern sie wie die Wurzeln. Man braucht nur einen Sonnenstich zu bekommen, schon verläßt man Haus und Hof und lebt so. Ihre Uniform kostet nichts.« »Bei uns gehen solche Leute ins Kloster.«
»Das ist das gleiche, Herr Ingenieur«, hatte Giannino lächelnd gesagt. »Das ist das gleiche. Unser Kloster ist das Gefängnis.«
Aber als dann die durchsichtig klaren Tage dahinschwanden und das Meer sich verdüsterte, hatte Stefano an ihr fahles Fleisch gedacht, an die Fenster, durch die es kalt hereinzieht, und an den gelben überschwemmten Strand. Im Dorf war ein weniger zerlumpter Bettler erschienen, der seinen Kopf zur Wirtshaustür hereinstreckte und um eine Zigarette bat. Er war ein vertrocknetes munteres Männlein, steckte von oben bis unten in einem zu langen Militärmantel, dessen Saum immer schmutzig war und unter dem zwei in Sackleinen gehüllte Füße hervorschauten. Eine Zigarette und ein Glas Wein genügten ihm; Suppe bekam er woanders, oder er begnügte sich mit Feigen. Er lachte sarkastisch mit seinen gelben Zähnen unter dem krausen Bart, ehe er um etwas bat.
Auch Barbariccia – der Krausbart – hatte einen Sonnenstich abbekommen und ein Pfarrer hatte ihn in einer Anstalt untergebracht, aber er war seinem Instinkt gefolgt und auf die Straße gegangen. Obwohl er schwachsinnig war und aus den Bergen stammte, hatte er seine witzigen Einfälle und brachte es fertig, jemand, der ihm aus grundsätzlichen Erwägungen nichts zu rauchen gab, »Cavaliere« zu nennen. Bestimmte Leute bat er nur um ein Zündholz. Vor dem kahlen Vincenzo zog er die Mütze, tippte sich an die Stirn und verbeugte sich. Alle hatten ihn gern und behaupteten, die nächtliche Feuchtigkeit vermöchte ihm nichts anzuhaben.
Auch er war eines gewittrigen Morgens unter Stefanos Tür erschienen, hatte seine Mütze gezogen, gelacht und seine Finger wie zu einem muselmanischen Gruß an die Lippen gelegt. Um rasch zu machen und ihn nicht im Nassen stehen zu lassen, hatte Stefano ihm eine Zigarette gereicht, aber Barbariccia hatte darauf bestanden, er wolle Kippen, und Stefano war nichts übriggeblieben, als sie tiefgebeugt vom Boden, aus den Ecken und dem Kehricht aufzulesen, während sich der Bettler ruhig und geduldig naßregnen ließ.
»Kommen Sie
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