Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
sich begraben, und in ihrer Unersättlichkeit würde sie auch das Kloster schlucken, bis nichts mehr davon übrig geblieben war. Obwohl Buddha ihn gelehrt hatte, sich nicht an materielle Dinge zu klammern, fiel es dem Abt schwer, den endgültigen Untergang der Stadt zu akzeptieren.
Vor über einem Jahr waren die letzten Bewohner von Li Xie in das viele Tagereisen entfernte Khotan gegangen, das seit einigen Jahren in tibetischer Hand war. Die letzten verbliebenen Mönche und Bauern hatten versucht, ihn zum Mitkommen zu überreden, aber er war standhaft geblieben: Er wollte in Li Xie sterben. Daraufhin hatten die Bauern ihm einen Teil ihrer wenigen Vorräte gegeben, bevor sie für immer zwischen den Dünen verschwanden und ihn seiner Einsamkeit überließen. Seitdem hatte der Abt keinen Menschen mehr gesehen, keine menschliche Stimme mehr gehört, selbst die Vögel waren im Herbst verschwunden und nicht wieder zurückgekehrt. Manchmal hörte er die Geister flüstern, ein verstörendes, hohes Singen aus einer anderen Welt. Dann legte er sich auf sein Lager und hielt sich die Ohren zu. Leise rann die Zeit davon wie der Sand, der erst in kleinen Bächen gekommen war und nun in großen Strömen in die Stadt floss, langsam, stumm, unaufhaltsam.
Der Abt rutschte auf der anderen Seite der Düne hinunter und schleppte sich nach Südosten, bis er zu einem großen Anwesen gelangte, das noch in einem relativ guten Zustand war. Er ging durch das Tor, überquerte den Hof und stoppte vor einem Brunnen. Das Wasser war brackig, aber trinkbar. Er hatte ohnehin keine Wahl, dies war der letzte noch nicht versandete Brunnen. Er nahm einen tiefen Schluck, dann betrat er zögernd das Gebäude. Bisher hatte er es vermieden, in die aufgegebenen Häuser zu dringen, aber seine Vorräte waren vor sieben Tagen zur Neige gegangen. Wenn er etwas essen wollte, musste er die Speicher der großen Häuser durchsuchen. Es war denkbar, dass die ehemaligen Bewohner den einen oder anderen Krug mit Getreide und getrocknetem Obst oder Gemüse vergessen hatten. Mit leeren Händen kam er wieder ans Tageslicht. Außer ein paar Haushaltsgegenständen, kostbaren Gefäßen und Münzen hatte er nichts finden können.
Er verließ den Hof. Sein Ziel waren die Schreine im südlichen Teil der Stadt, die noch nicht von den alles verschlingenden Sandmassen bedroht waren. Der Weg führte ihn am Markt vorbei. Er setzte sich erschöpft auf eine zusammengesunkene Mauer und ließ den Blick über den leeren Platz gleiten. Auch hier, im Zentrum der Stadt, formten sich bereits die ersten kleinen Sanddünen, und ein weiterer Windstoß wirbelte eine Windhose auf. Die Trostlosigkeit des Ortes lastete so schwer auf ihm, dass er kaum noch Luft bekam.
Auf dem Marktplatz hatte einmal das Herz von Li Xie geschlagen. Wie viel Zeit war vergangen, seit der Platz mit Leben erfüllt war? Er konnte sich noch gut an die Gauklertruppe und den Zwerg entsinnen, dreizehn oder vierzehn Sommer mochte dies nun her sein. Die Artisten waren nach wenigen Tagen weitergezogen; sie waren die letzten Besucher, die Li Xie bewirtet hatte.
Der Abt erhob sich ächzend. Seit dem vorletzten Winter schmerzten seine Gelenke und machten jede Bewegung zur Qual, aber er wollte unbedingt noch die Schreine besuchen, bevor er sich zum Sterben in seinen Raum zurückzog.
Der östlichste der Schreine war immer sein Lieblingsort gewesen. Durch einen Eingang in der nördlichen Außenmauer betrat er einen schmalen, um das innere Gebäude herumführenden Gang. Während er leise seine Mantras murmelte, umkreiste er es mehrmals, bis er sich schließlich in dem kleinen Raum vor der im Zentrum thronenden Buddhastatue niederkauerte. In jeder Ecke stand eine lebensgroße, rotbemalte Wächterfigur. Die gütigen Augen des Buddhas ruhten auf dem Abt, und er erlangte seine innere Ruhe wieder. Was immer in den kommenden Stunden auch geschehen würde, er sah dem Tod gelassen entgegen.
Kurz bevor der Abt die Düne vor seinem Kloster überwunden hatte, verdunkelte sich der Himmel. Wie aus dem Nichts erhob sich ein Sturm, der an seinen Kleidern zerrte und die Pappeln beugte. Der Abt hielt sich die Hände vor Mund und Nase und taumelte auf das schützende Gebäude zu. Der Schwarze Sturm würde jeden Augenblick mit einer Macht zuschlagen, die ihn von den Füßen reißen und ganze Bäume entwurzeln konnte. Kiesel und Äste krachten gegen die Klostertür, als er sie hinter sich zuschlug. Im Raum war es stockdunkel, aber nach kurzem
Weitere Kostenlose Bücher