Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
Nikolai zurückgekommen war. Wie viel Zeit war vergangen? Eine Stunde? Zwei? Sie wusste es nicht, aber sehr lange konnte er nicht fort gewesen sein; noch immer war es dunkel und totenstill. Er löste den Knebel.
»Ich kann Ihnen nicht helfen. Lassen Sie mich in Ruhe«, ächzte sie.
»Seien Sie nicht dumm. Ihre Freundin Marion hat Ihr Vertrauen missbraucht und Sie in eine äußerst prekäre Lage gebracht. Wollen Sie wegen eines Gegenstands leiden, der Ihnen nicht einmal gehört?«
»Leiden?«, flüsterte Susanne. Ihr Widerstand zerbröselte zu Staub. Sie war mit den Nerven am Ende.
»Das Kästchen ist bei einem Sinologen«, sagte sie tonlos.
Nikolai knebelte Susanne erneut. Dann zog er sie aus dem Auto und warf sie sich über die Schulter. Susanne war leicht, und er schritt mühelos einen kaum sichtbaren Waldweg entlang. Sie zappelte, aber er hielt sie so fest, dass sie nicht von seiner Schulter rutschte. Nach wenigen Minuten hatte er den Wald verlassen und bog auf einen asphaltierten Feldweg.
Mehrere hundert Meter entfernt konnte er die ersten Häuser eines Dorfes erkennen und hielt darauf zu. In gebührendem Abstand zu den Häusern ließ er Susanne auf den Boden gleiten. Er lehnte sie gegen einen einzeln stehenden Baum und band sie mit einem Seil daran fest. Susanne wimmerte leise. Nikolai strich ihr über die Haare.
»Sie werden es mir nicht glauben, aber es tut mir leid, dass ich Ihnen diese grässliche Nacht zumuten musste. Bedanken Sie sich bei Marion. Es sind nur noch wenige Stunden bis zur Morgendämmerung. Dann führen die Frühaufsteher ihre Hunde spazieren. Man wird Sie bald finden.«
Als er schon zwanzig Meter entfernt war, drehte er sich noch einmal um und kehrte zurück. Susanne presste sich voller Entsetzen gegen den Baum. Nikolai zog seinen Fleecepullover aus und wickelte ihn um Susannes Schultern und Kopf, so dass nur noch ihr Gesicht zu sehen war. Dann entfernte er sich eilig.
Nikolai nahm die Hand vom Steuer und sah auf die Uhr. Zwei Uhr morgens. Er hatte nicht mehr viel Zeit, bis Susanne entdeckt wurde. Er drückte auf die Wahlwiederholungstaste und klemmte sich sein Handy ans Ohr. Es klingelte nur einmal, dann wurde auf der anderen Seite abgenommen.
»Nikolai?«
»Ja. Bist du bereit?«
»Ich kann in dreißig Sekunden aus dem Haus sein. Ich habe deinen Anruf schon vor Stunden erwartet. Du hättest das Mädchen härter anfassen sollen.«
»Du hast deine Methoden, ich habe meine. Die Pferdefigur befindet sich im Haus eines gewissen Professor Kirschner, in der Cranachstraße in Othmarschen. Du hast maximal vier Stunden, bevor die Polizei dort vor der Tür steht. Geh lieber davon aus, dass das Mädchen noch früher gefunden wird, und beeil dich.«
»Worauf du dich verlassen kannst. Sollte alles klappen, sehen wir uns morgen Abend in Prag.«
»Viel Glück, Igor. Wenn du es nicht schaffst, geht uns ein Haufen Geld durch die Lappen.«
»Ich tue mein Bestes, aber erwarte keine Wunder.«
»Natürlich nicht. Doswedanje. «
Nikolai unterbrach die Verbindung, wischte das Handy ab und warf es aus dem Autofenster in einen Straßengraben. Kurz darauf bog er von der verlassenen Landstraße in ein Waldstück und hielt. Er säuberte mit einem Lappen methodisch den Fahrerraum, dann stieg er aus und nahm sich den hinteren Teil des Wagens vor. Nachdem er sichergestellt hatte, dass keinerlei verräterische Gegenstände in dem Wagen liegengeblieben waren, ging er auf ein Gebüsch zu. Dahinter parkte ein dunkelblauer Golf mit Bremer Kennzeichen, den er sich für eine Woche unter seinem neuen Namen geliehen hatte.
Nikolai öffnete den Kofferraum und nahm eine Reisetasche heraus. Er entkleidete sich und zog ein Hemd und einen billigen Anzug an. Neue Socken, Schuhe und ein Wintermantel lagen ebenfalls bereit. Er stopfte die benutzten Sachen in einen Müllsack und packte einen großen Stein obenauf. Als Letztes verbrannte er in einem Aluminiumteller seinen Reisepass und streute die Asche in den Sack, den er anschließend verknotete und auf den Beifahrersitz stellte.
Im schwachen Licht der Innenbeleuchtung begutachtete er im Rückspiegel sein Gesicht. Um seine eingesunkenen Augen lagen schwarze Schatten. Man sah ihm den wenigen Schlaf der vergangenen Wochen an.
Im nächsten März wurde er zweiundvierzig, und er fühlte sich alt. Es wurde Zeit, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen; der Kunstschmuggel wurde riskanter und härter, und die Arbeit gefiel ihm immer weniger. Nikolai hoffte, dass Igor mit dem
Weitere Kostenlose Bücher