Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
Herumtasten fand er seine Lampe und entzündete sie. Es gab keinen Grund mehr, an Lampenöl zu sparen. Während draußen der Sturm heulte und die Geister der Wüste in den einsamen Straßen tanzten, wankte der Abt in eine versteckte Kammer im hinteren Teil des Gebäudes, in der vor langer Zeit die Besitztümer des Klosters gelagert worden waren.
An einer Wand lagen sauber aufgestapelt mehrere Dutzend Schriftrollen. Nach kurzem Suchen wählte er eine Herz-Sutra, über der er in den letzten Stunden seines Lebens meditieren wollte. Als er die anderen Rollen wieder ordentlich zurücklegte, fiel ihm ein unscheinbares Kästchen ins Auge.
Sobald er die darin liegende Pferdefigur sah, kamen ihm der Mann mit den verschiedenfarbigen Augen und dessen Schwester in den Sinn. Zusammen mit der Schriftrolle trug er das Kästchen in seinen Raum. Die von der Figur heraufbeschworenen Erinnerungen trösteten ihn: die schönen Pferde, das Lachen der Bauern, die glänzenden Augen der Kinder, die Musik.
In seiner Kammer ließ er sich im Lotossitz auf dem Lager nieder und öffnete das Kästchen noch einmal. Nachdem er das zerbrochene Pferd wehmütig betrachtet hatte, nahm er die Bambusstäbchen heraus und las die blassen Zeichen.
Nach einer Weile legte er die Stäbchen seufzend zurück. Die Botschaft stammte aus einer anderen Zeit, war vielleicht vor vielen hundert Wintern verfasst worden, doch die Welt hatte sich seitdem nicht verändert. Er hatte nur wenige der Schriftzeichen entziffern können, doch sie reichten ihm, um zu verstehen, dass sie vom Krieg handelten und somit von Leid und Tod. Wann würden die Menschen endlich begreifen, dass nur der Pfad des Erleuchteten sie zu Glück und Frieden führte?
Er breitete die reich bebilderte Schriftrolle aus und beschwerte sie mit dem Kästchen. Bevor er begann, die Sutra zu lesen, sandte er ein Gebet an den barmherzigen Avalokiteshvara und bat ihn, die Geschwister zu beschützen.
Der Sturm tobte noch immer, als der Abt leblos über der Schriftrolle zusammensackte.
Hamburg
Dezember 2004
M ehrfarbige Weihnachtslichter blinkten Susanne aus den dunklen Fenstern entgegen, als sie die Charlottenstraße entlangging, die von der U-Bahn-Station zu ihrer Wohnung führte. Ein Anwohner hatte eine Strickleiter von seinem Balkon herabgelassen, an der ein grässlicher lebensgroßer Plastiknikolaus hing. Bis Weihnachten sind noch ganze drei Wochen Konsumterror zu überstehen, dachte Susanne, drei Wochen Irrsinn und amerikanischer Winterwunderlandkitsch, made in China. Ihretwegen hätte ein Gesetz erlassen werden können, das elektrische Beleuchtung in der Vorweihnachtszeit unter Strafe stellte und das Anzünden von Kerzen belohnte. Sie beschleunigte ihre Schritte; bis Mitternacht würde sie es gerade noch schaffen. Ausgerechnet heute, am Abend vor Marions Geburtstag, hatte der Chefredakteur ihnen seine neuen Pläne für die Zeitschrift erläutert, was zu Protesten und Diskussionen geführt hatte. Die Redaktionssitzung zog sich stundenlang hin, und Susanne konnte sich nicht frühzeitig fortstehlen, weil es auch ihr Ressort betraf.
Sie bog nach links in die Eimsbütteler Straße ein. Ihr war kalt, und sie freute sich auf ihre warme Wohnung. In ihrer Küche sah sie Licht brennen. Marion und Thomas warteten sicher schon mit dem Sekt und einem mit Chili gespickten Abendessen. Sie überquerte gerade die Straße, als hinter ihr schnelle Schritte auf das Kopfsteinpflaster knallten. Bevor sie sich umdrehen konnte, legte sich eine Hand von hinten über ihr Gesicht, und ihr wurde schwarz vor Augen.
Als Susanne wieder zu sich kam, hatte sie rasende Kopfschmerzen, und ihr war übel. Lautes Motorengeräusch und das Schlingern und Rumpeln deuteten darauf hin, dass sie sich in einem Auto befand. Sie versuchte, sich aufzurichten, fiel aber sofort wieder zurück. Um sie herum war es stockdunkel, bis die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos ihre Umgebung für einige Sekunden in geisterhaftes Licht tauchten.
Susanne stellte bestürzt fest, dass sie in einem Schlafsack steckte. Ein Strick oder Kabel war fest um sie gewickelt, sie konnte sich nicht rühren. Panisch wand sie sich mit schlangenartigen Bewegungen hin und her, aber es nutzte nichts. Sie schrie auf. Eine Männerstimme erklang, aber wegen des Motorenlärms konnte sie nichts verstehen.
Nach einer langen Fahrt hielt der Wagen an, und der Motor wurde ausgestellt. Furchteinflößende Stille umgab Susanne. Ihre Gedanken überschlugen sich. Hatte der Mann
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