Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
werden, kann ich für die Sicherheit von Li Xie nichts mehr tun«, antwortete der Kommandant resigniert.
Der Abt wies auf die Bauern und Soldaten, die in einem großen Kreis um den Marktplatz herumstanden. »Es wird nicht mehr lange gutgehen. Die Ernten werden jedes Jahr schlechter, die Kinder und Alten verhungern. Wohin soll das führen?«
Niemand sprach es in der Öffentlichkeit aus, aber jeder wusste, dass die Tage der Chinesen in Khotan, Karashar, Kucha und Kashgar gezählt waren. Ohne die Hilfe der Uighuren, die in immer größerer Zahl in die Oasenstädte strömten, hätten die chinesischen Kommandanten längst aufgeben müssen. Der Abt war kein erklärter Freund der Chinesen, aber er fürchtete sich vor dem, was geschehen würde, wenn sie ihre Soldaten aus den vier Garnisonen abzögen.
»Wir werden Li Xie aufgeben müssen«, antwortete der Kommandant. »Seit ich meinen Posten angetreten habe, sind …« Der Rest seines Satzes ging im aufbrandenden Jubel unter. Die Musiker hatten sich in einen Halbkreis gesetzt und begannen zu spielen.
»Lasst uns heute feiern, verehrter Abt. Wer weiß, was morgen geschieht«, überschrie der Kommandant den Lärm und klatschte im Takt der Musik. Nach einigen Liedern forderten die Tänzer die Zuschauer auf, sich zu ihnen zu gesellen, und bald sprangen Bauern und Soldaten mit ungelenken Bewegungen zur Musik im Zentrum des Kreises herum. Mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln bemerkte der Abt, dass sogar einer seiner jungen Mönche sich unter die Tänzer gemischt hatte. Er wollte gerade zu ihm gehen und ihn aus der Gruppe herauszerren, als ihm die Worte des Kommandanten in den Sinn kamen: Wer weiß, was morgen geschieht. Er ließ dem Mönch sein harmloses Vergnügen und wandte sich zum Gehen. Die fröhlichen Melodien erschienen ihm mit einem Mal wie der Totengesang dieser Stadt, in der er sein ganzes Leben verbracht hatte.
* * *
Seine Zunge war angeschwollen und klebte am Gaumen. Der Abt hatte sich an den Hunger gewöhnt, der seit Monaten in seinen Eingeweiden wühlte und ihn betäubte, aber er war nicht auf die alles beherrschende Macht des Durstes vorbereitet gewesen, der ihm die Konzentration zum Meditieren raubte. Er hatte sich für stark genug gehalten, bis zu seinem unausweichlichen Tod in diesem Raum sitzen zu bleiben und sein Bewusstsein von seinem ausgemergelten Körper trennen zu können, aber der Durst erwies sich als stärker. Bedauernd öffnete er die Augen und ließ die irdische Welt wieder Besitz von ihm ergreifen.
In den letzten Tagen hatte der Sand einen Weg in seine Kammer gefunden. Er rieselte durch einen Spalt zwischen den Fensterläden, und vor der Türschwelle hatte sich ein kleiner Hügel gebildet. Selbst sein Gewand und seine Haare waren mit Sand bedeckt, und als sich der Abt mit der Zunge über die aufgeplatzten Lippen leckte, rieb er sich Sandkörner schmerzhaft in die offenen Stellen. Seine Beine versagten mehrmals, bevor es ihm gelang, aufzustehen. Er schwankte und musste sich an der Wand abstützen, um nicht ohnmächtig zu werden. Sobald sich sein Kreislauf stabilisiert hatte, verließ er mit einem großen Tonkrug in der Hand den Raum.
Er erschrak, als er vor die Tür trat. Die Düne hatte sich weiter vorgeschoben und blockierte den Ausgang des Klosterhofs. Die Hälfte des Schreins im nördlichen Anbau und, was schlimmer war, der Brunnen waren verschüttet. Die entsetzliche Erkenntnis, dass seine Wasserversorgung unerreichbar unter dem Sand begraben lag, verschlimmerte seinen Durst ins Unerträgliche.
Seinen Tonkrug mit dem Kopf vor sich herstoßend, kroch der alte Abt mühsam auf die Sanddüne. Es ging quälend langsam. Die Anstrengung war zu viel für ihn, und als er oben angelangt war, brach er schwer atmend zusammen. Es dauerte lange Zeit, bis er wieder genug Kraft gesammelt hatte, um sich aufzusetzen und seine Umgebung zu betrachten. Die Kuppe der Düne überragte die eingeschossigen Häuser um das Dreifache, und er konnte die gesamte Stadt überblicken. Was er sah, war entmutigend. Er hatte das Kloster seit zwei Monden nicht mehr verlassen, und in der Zwischenzeit hatte die Wüste große Teile von Li Xie erobert. Es war die Zeit der Stürme, die Dünen wanderten schnell, und auch der Verfall seines geliebten Klosters war nicht zu bremsen. Zuerst hatte er noch versucht, den Sand aus dem Hof zu schaufeln, aber es war ein hoffnungsloses Unternehmen: Die Düne, auf der er gerade stand, hatte die Obstbäume und Häuser der Nachbarschaft unter
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