Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
sollte. Kurz vor dem Unfall hatte er dann gesehen, wie sie versunken mit der kleinen, glänzenden Pferdefigur spielte. Und als sie von ihrer Pritsche geschleudert wurde, hatte er noch registriert, dass sie die Figur losließ. Dann hatte er für eine Weile das Bewusstsein verloren.
Die Ausländerin rief ihm etwas Unverständliches hinterher. Bug beschleunigte seine Schritte, so gut er konnte, und blickte über die Schulter. Die Frau war ebenso lädiert wie er und konnte ihn nicht einholen. Die anderen Passagiere waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ihn zu beachten. Bug schlug einen Haken in Richtung der Straße. Sobald er die andere Straßenseite erreicht hatte, würde er zwischen den Dünen verschwinden, den neuen Tag abwarten und später, nachdem die anderen Passagiere abgeholt worden waren, einen Lastwagen anhalten, der ihn mit zurück nach Khotan nahm. Die Figur in seiner Hand schien plötzlich wärmer zu werden. Bug durchfuhr ein unheimlicher Schauer. Das Blut stieg ihm in den Kopf, pochte in seinen Ohren. Er wollte nur noch weg, weg von dem Buswrack, weg von den Verletzten, weg von der Ausländerin. Er trat auf die Straße, ohne sich um ihren erneuten Ruf zu kümmern.
Marions Knie brannte wie Feuer. Sie hatten sich ein ganzes Stück von der Unfallstelle entfernt, aber noch immer hatte der Käfermann einen guten Vorsprung. Marion würde ihn nicht erwischen; sobald er zwischen den Dünen auf der anderen Straßenseite abtauchte, war er so unerreichbar wie auf der Rückseite des Mondes. Der Mann taumelte auf die Straße zu. Immer wieder schaute er sich um. Sah er denn nicht den Lastwagen, der auf ihn zudonnerte?
»Bleib stehen! Halt!«, schrie Marion.
Der Mann ging weiter.
Hilflos musste Marion mit ansehen, wie der Mann von dem schweren Lastwagen erfasst und mindestens fünfzig Meter weit mitgeschleift wurde. Die grässliche Szene wirkte irreal, und sie nahm alles überdeutlich und verlangsamt wahr: das entsetzlich verzerrte Gesicht des Mannes, als die Scheinwerferkegel ihn erfassten, seinen grotesk verdrehten Körper. Und den kleinen Gegenstand, der ihm aus der Hand geschleudert wurde. Wie in Zeitlupe verfolgte sie die Pferdefigur, die in einem weiten Bogen von dem Lastwagen wegflog und nur wenige Meter vor ihr in den Sand fiel, als wolle sie zu ihr zurückkehren. Ohne nachzudenken, beinahe wie ferngesteuert, bückte sich Marion zu der Figur, hob sie auf und stopfte sie in ihre Jackentasche. Dann drehte sie sich um und ging zurück zu ihrem Sandhügel, ohne die hysterischen Passagiere wahrzunehmen, die zu der weiteren Unglücksstelle eilten. Ihr Körper war gefühllos, ihr Kopf leer, ihre Sinne ausgeschaltet. Sie legte sich auf die Seite und rollte sich wie ein Embryo zusammen. Als die Polizei kurz nach Sonnenaufgang den Unfallort erreichte, hatte sie ihre Position nicht verändert.
* * *
Hinter Marions geschlossenen Augenlidern tanzten bunte Flecken. Es musste heller Tag sein, aber sie konnte sich nicht überwinden, die Augen zu öffnen, und blieb reglos liegen. Sie fühlte sich benommen, wie in Watte gepackt. Nur langsam fanden die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Nacht den Weg in ihr Bewusstsein zurück. Sie fragte sich, wo sie war. Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, waren die blendenden Scheinwerfer des Lastwagens. Dann wurden die Bilder in ihrem Kopf unscharf. Man hatte ihr Fragen gestellt. Sie in ein Auto gesetzt. In dem Auto war es warm gewesen. Sie werden mich in ein Krankenhaus gebracht haben, dachte sie. Öffne die Augen und du siehst ein Krankenzimmer.
Das Zimmer war deprimierend. Dreckschlieren in allen Farben liefen die ehemals erbsengrünen Wände herunter. Verblichene Vorhänge in derselben unappetitlichen Farbe hingen vor einer Fensterfront, in der die Hälfte aller Scheiben kaputt war. Durch die Sprünge zog kalter Wind. Acht Betten drängelten sich auf engstem Raum. An der gegenüberliegenden Wand spendete ein vergilbtes chinesisches Aquarell Trost. Goldfische und Seerosen.
Der Lärm im Zimmer drang langsam zu Marion durch. Angehörige der Patienten standen um die Betten herum, Kinder tobten im Mittelgang. Eine Krankenschwester stritt sich lautstark mit einer älteren Bäuerin, deren Arm in einem Gipsverband steckte. Es grenzte an ein Wunder, dass Marion überhaupt hatte schlafen können.
Sie setzte sich auf und schlug die Decke zurück, weil sie dringend zur Toilette musste. Ihr Knie war bandagiert. Vorsichtig schob sie die Beine über die Bettkante und stand
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