Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
auf. Es tat weh, war aber auszuhalten. Am Fußende des Bettes lagen ihre Jacke und die restliche Kleidung. Marion tastete die Taschen ab und stellte erleichtert fest, dass sowohl das Kästchen als auch das Pferd noch an Ort und Stelle waren. Dann humpelte sie in Richtung Tür. Niemand beachtete sie. Die Toiletten befanden sich am Ende des Flurs, und sie brauchte einige Minuten für den Weg. Dort angekommen wäre sie am liebsten wieder umgekehrt: Der Anblick hätte in Deutschland zur sofortigen Schließung des Krankenhauses geführt. Sie humpelte angeekelt um die Lachen auf dem Boden herum und beschloss, keine Minute länger als nötig in diesem Krankenhaus zu bleiben. Gesund werden konnte sie auch woanders.
Als sie zurückkehrte, stand ein Arzt neben ihrem Bett. Er stellte sich als Dr. Qiu vor und teilte ihr mit, dass die Bänder in ihrem Knie gedehnt waren. Es war nichts gerissen, und auch der Meniskus hatte nichts abbekommen.
»Es hätte schlimmer ausgehen können«, schloss der Arzt. »Wie fühlen Sie sich sonst?«
»Den Umständen entsprechend. Die letzte Nacht war fürchterlich.«
»Letzte Nacht? Fräulein Reu-Ta, heute ist Samstag, später Nachmittag. Sie haben sechsunddreißig Stunden geschlafen.«
Marion sah den Arzt verblüfft an.
»Ich habe nachgeholfen«, sagte er mit unschuldigem Gesichtsausdruck. »Sie waren völlig durcheinander, als die Polizei Sie einlieferte. Erinnern Sie sich noch an die Einzelheiten der schrecklichen Unfälle?«
»Im Großen und Ganzen ja. Bis der Mann auf die Straße lief. Von da an verschwimmt alles.«
»Es ist besser so.«
»Hat es den Mann sehr schlimm erwischt? Ist er tot?«
»Ja.«
Das Pferd ist kein Glücksbringer, dachte Marion. Zwei Menschen sind gestorben, weil sie es unbedingt haben wollten, und ich sehe aus, als hätte man mich durch den Fleischwolf gedreht. Wäre ich abergläubisch, müsste ich es meinem ärgsten Feind in die Hand drücken.
»Hat man das Gepäck aus dem Bus herausgeholt? Und wo bin ich? Ich meine, in welcher Stadt?«, fragte sie den Arzt.
»In Korla. Der Unfall hat sich fast vierhundert Kilometer von hier ereignet. Unser Krankenhaus war am schnellsten zu erreichen. Ihr Gepäck liegt unter dem Bett. Es war der einzige große Rucksack im Bus, also nahmen wir an, dass es Ihrer ist.« Er spähte unters Bett. »Er ist rot.«
»Das wird er sein.«
Eine Krankenschwester trat zu ihnen und lehnte ein Paar graue Krücken gegen die Wand. Sie wechselte einige Worte mit dem Arzt, woraufhin er sich von Marion verabschiedete. Kaum war er draußen, kramte sie in ihrem Rucksack nach dem Wecker, stellte ihn und ließ sich dann auf das Bett fallen. Trotz des Lärms schlief sie sofort wieder ein.
Um fünf Uhr am nächsten Morgen schreckte Marion hoch. Um die anderen Patienten nicht zu stören, hatte sie den Wecker unter das Kopfkissen gelegt. Sie schlüpfte aus dem Bett und wühlte leise in ihrem Gepäck herum. Als sie fertig war, warf sie einen bedauernden Blick auf die Sachen, die sich auf der Bettdecke häuften. Es half nichts. Sie musste den Rucksack leichter machen, um sich mit den Krücken fortbewegen zu können, was schon ohne Gepäck schwierig genug war. Die Krücken quietschten auf dem Linoleumfußboden, als sie auf die Tür zuhinkte, aber sie konnte es nicht ändern. Eine der Patientinnen stöhnte im Schlaf, ohne aufzuwachen. Auf dem Gang kam ihr eine Krankenschwester entgegen. Marion lächelte sie an, um ihr zu signalisieren, dass alles seine Ordnung hatte. Vor dem Krankenhaus hielt sie ein Taxi an und ließ sich zum Busbahnhof bringen. Es war stockdunkel.
Sie kaufte eine Busfahrkarte nach Turfan, dann setzte sie sich vor eine der Teebuden und bestellte youtiao. Die Wanduhr hinter dem Tresen zeigte halb sieben. Bis zur Abfahrt des Busses war es noch eine halbe Stunde.
Die Nomadin aus den Bergen
Oktober 79 n.Chr.
S chneemond lag seit Stunden wach und lauschte auf das von einem leichten Wind über den See getragene Heulen der Wölfe. Die Wölfe kamen immer weiter die Berge herunter, und kurz vor Einbruch der Dunkelheit waren Schneemond die huschenden Schatten am anderen Seeufer aufgefallen. Ihre Familie hätte bereits vor einem halben Mond mit den Schafen und Pferden die Sommerweiden verlassen sollen, um sich mit den Klans in der Grasebene zu treffen, aber Schneemond wartete noch auf ihren Bruder und ihre Schwestern. Seit die drei vor neun Tagen aufgebrochen waren, um die versprengten Hengste einzufangen, hatte sie nichts von ihnen gehört,
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