Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
überwunden hatten, sammelten sich die Leichtverletzten, um den weniger Glücklichen zu helfen. Es gab Arm- und Beinbrüche, Platzwunden und Schnitte, aber offenbar schwebte niemand in Lebensgefahr. Zwei Frauen und ein Mann behielten in dem Durcheinander die Nerven und gingen von einem zum anderen, stellten Fragen und stillten blutende Schnittwunden mit Stoffstreifen. Die Fahrer mehrerer Lastwagen parkten ihre Fahrzeuge am Straßenrand und boten ihre Hilfe an. Über Handy wurde die Polizei verständigt.
Eine der Frauen kam zu Marion, die mit leerem Blick auf einem niedrigen Sandhügel hockte. Die Frau schob Marions Hosenbein hoch und tastete das Bein ab. Dann stand sie auf und mimte einen Menschen an Krücken. Auch das noch, dachte Marion.
Es war beißend kalt, und Marion schlug die Arme um sich. Die Reisenden lagen oder saßen in kleinen Gruppen um die Wracks herum, die im fahlen Licht des Mondes gespenstische Schatten warfen. Kaum jemand sprach. Über den Sanddünen hing Staub und verbarg die Sterne. Der Mond, nur noch wenige Tage vom Vollmond entfernt, hatte eine kränklichgelbe Aureole. In weiter Entfernung verriet ein Lichtschein das Herannahen eines weiteren Fahrzeugs.
Etwas später sah Marion den Käfermann langsam auf den Einstieg des Busses zuhinken und dann die Stufen hinaufklettern. Sie fragte sich, warum er sich dieser Anstrengung in seinem Zustand aussetzte. Wahrscheinlich hatte er etwas Wertvolles verloren.
Etwas Wertvolles? Marion stöhnte auf. Sie hatte auch etwas Wertvolles verloren: das Jadepferd! Sie hatte es in der Aufregung völlig vergessen. Es war ihr aus der Hand geglitten, als der Lkw den Bus gerammt hatte. Trotz ihrer Benommenheit dämmerte es ihr langsam: Der Käfermann hatte es bestimmt gesehen und wollte es haben. Mist! So schnell es ihr lädiertes Knie zuließ, humpelte sie auf die klaffende Bustür zu.
In der Dunkelheit konnte sie ihn nur schemenhaft erkennen, aber umso deutlicher hören. Er kroch auf allen vieren durch den Gang. Lautlos ließ sich Marion im Parallelgang nieder und suchte den Boden ab. Nichts. Sie tastete die Pritschen rechts und links von ihr ab, ohne auf das kleine Pferd zu stoßen. Marion zwang sich zum Nachdenken. Sie war nach vorn geflogen, also war auch die Figur in diese Richtung geschleudert worden und musste sich im Einstiegsraum oder in der offenen Fahrerkabine befinden. Dort war immer noch die Leiche des Fahrers eingeklemmt. Einige Männer hatten versucht, seinen Körper hinter dem Lenkrad hervorzuziehen, aber es war ihnen nicht gelungen. Marion schob sich beklommen auf die Fahrerkabine zu. Erst suchte sie den Boden auf der rechten Seite ab, ohne Ergebnis. Es half nichts, sie musste auch unter den Füßen des Toten nachsehen. Bewegungsunfähig kauerte sie vor der Leiche und lauschte auf das Rumoren des Käfermannes im hinteren Teil des Busses. Es kostete sie enorme Überwindung, den Toten zu berühren.
Die Geräusche näherten sich. Der Mann hatte die Suche im linken Gang beendet und arbeitete sich nun von hinten durch den rechten Gang. Marion gab sich einen Ruck und langte zwischen den Füßen des Fahrers hindurch. Hektisch tastete sie den Fußraum ab. Gaspedal. Bremse. Ein Zigarettenpäckchen. Eine Münze. Das Pferd! Marion gelang es, die Figur zu fassen, aber sie entglitt ihr wieder und fiel mit einem dumpfen Knall auf den Boden. Sie erstarrte. Aus dem Gang drang kein Laut. Sie wagte es nicht, den Kopf zu drehen und nachzusehen. Erneut griff sie nach der Figur und wandte sich zur Tür.
Der Käfermann stand direkt vor ihr.
»Gib das her!«, zischte er.
»Niemals!« Marion wich zurück und stieß gegen den Schaltknüppel. Der Mann hatte nur auf diese Gelegenheit gewartet. Er packte ihre Hand und presste sie brutal zusammen. Marion schrie auf und öffnete die Finger. Der Käfermann ergriff das Jadepferd und sprang trotz seiner Verletzung mit einem überraschenden Satz aus dem Bus.
Mühsam stolperte Bug zwischen den anderen Menschen hindurch. Für ihn war der Unfall im Grunde ein Glücksfall gewesen, auch wenn es den armen Teufel von Busfahrer dabei erwischt hatte. Es war wirklich ein Jammer um den Mann; sie hatten sich die letzten Stunden sehr gut unterhalten. Aber das war jetzt nicht mehr zu ändern. Das Schicksal hatte ihm endlich die Figur in die Hände gespielt, auf die der dürre Wang aus Kashgar so versessen war. Bug hatte sich schon die ganze Fahrt über den Kopf zermartert, wie er sie der schlaflosen Ausländerin unbemerkt entwenden
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