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Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)

Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)

Titel: Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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sie einen hohen, langgezogenen Schrei aus, der Schneemond den Atem stocken ließ. Der verzweifelte Ruf wurde von den Bergen zurückgeworfen und schallte so machtvoll über den See, dass selbst die Wölfe ihr Heulen unterbrachen.
    Als Kostbare Blume vom Pferd rutschte, fing Schneemond sie auf. Erst jetzt sah sie, dass hinter ihrer Schwester ein großes Bündel auf dem Pferd befestigt war.

    Der Bär hatte ihre jüngste Schwester getötet und ihrem Bruder Sturm fürchterliche Wunden gerissen. Ein Prankenhieb hatte Sturm den linken Arm von der Schulter abwärts bis auf den blanken Knochen aufgeschlitzt. Tiefe Bisswunden bedeckten seinen Oberkörper und die Beine. Seine dicke Fellkleidung hatte ihm das Leben gerettet, aber als Schneemond seine Verletzungen mit einem heißen Kräutersud auswusch, wurde schnell deutlich, dass sie ihm nicht helfen konnte.
    * * *
    Sturm erlangte während des folgenden Tages nur selten das Bewusstsein, obwohl Schneemonds Tante, die mit zweien ihrer Söhne aus der Nachbarbucht herbeigeeilt war, ihm Kräuter und Fleischbrühe einflößte und seine Wunden reinigte. Sein Zustand war ernst, und als Schneemonds Vater die Tante fragte, ob sie Hoffnung hätte, vermied sie es, ihm in die Augen zu sehen.
    »Du wirst dich damit abfinden müssen«, sagte sie. »Sturm hat sein Leben in die Hände der Götter gelegt, als er Kleiner Stern aus den Klauen des Bären befreien wollte. Du kannst stolz auf ihn sein.«
    »Mir wäre es lieber, er hätte sich als Feigling erwiesen und säße gesund zwischen uns«, sagte Schneemonds Vater leise. »Wenn ich nicht so unnütz wäre, hätte ich niemals die Kinder in die Berge schicken müssen. Meine jüngste Tochter ist tot, und Sturm wird die kommenden Tage nicht überleben. Manchmal denke ich, dass ein Fluch über unserer Familie liegt.«
    Die Tante wollte widersprechen, doch dann blieb sie stumm. Sie dachte an ihre Eltern und Großeltern, denen es nicht vergönnt gewesen war, ihre Enkelkinder zu sehen. Von ihren acht Geschwistern war nur noch dieser eine Bruder übrig, der schwach und hilflos seine Lebenszeit im Zelt verbrachte, anstatt mit den anderen Männern auf die Jagd zu gehen. Ein Krüppel, dessen einziger Trost seine Kinder waren, seit seine Frau im Kindbett gestorben war. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht waren die Götter zornig auf ihren Klan.
    Bei Sonnenuntergang hatten Schneemond und ihre Cousins ihre Habseligkeiten reisefertig gemacht und die Tiere zusammengetrieben. Sie versammelten sich im Zelt und aßen Getreidebrei mit ein wenig Fleisch. Die Gespräche drehten sich hauptsächlich um die ihnen bevorstehende mühsame Reise. Niemand brachte den Mut auf, die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Tage anzusprechen, und bald versank die kleine Gemeinschaft in Schweigen. Einer nach dem anderen suchte sich einen Platz zum Schlafen, bis nur noch Schneemond und ihr Vater an dem kleinen Feuer saßen, das in der Mitte des Zeltes Wärme spendete.
    Der Vater sah unverwandt in die Flammen. In seinem Gesicht zuckte es.
    »Meine Schwester hat viel gesehen und weiß mehr über den Körper der Menschen als die Schamanen. Sie kennt alle Kräuter und Heilmittel, aber … sie glaubt, dass Sturm bald stirbt.«
    Schneemond wartete, bis ihr Vater fortfuhr.
    »Kennst du die Geschichte unserer Familie?«, fragte er unvermutet.
    »Ich habe die Legenden gehört«, antwortete sie ausweichend. »Aber du hast mir nie gesagt, ob sie wahr sind.«
    »Es ist viele Generationen her, so viele, dass niemand sie mehr zählen kann, als ein fremder Mann im Lager unserer Vorfahren auftauchte, weit im Osten von hier. Er war bis auf die Knochen abgemagert, und die Menschen des Lagers hatten Mitleid mit ihm. Sie nahmen ihn auf, gaben ihm zu essen und warme Felle und nach einiger Zeit eine ihrer Töchter zur Frau. Der Mann konnte reiten und schießen wie ein Xiongnu und bewies seine Tapferkeit in den Kriegen gegen die Han, von denen die Alten im Winter erzählen. Der Mann, dein Vorfahr, der vor hundertfünfzig oder mehr Sommern gelebt hat, war Chinese.«
    »Alte Geschichten«, bemerkte Schneemond.
    Ihr Vater seufzte tief. Auch wenn Schneemond es nicht wahrhaben wollte: In ihren schmalen schwarzen Augen, ihrer weißen Haut und ihren Gesichtszügen konnte er das chinesische Erbe erkennen, so wie es sich schon bei vielen früheren Familienmitgliedern gezeigt hatte. Ihr schlanker, zarter Körper schien so gar nicht zum Reiten zu taugen, aber er wusste es besser. Um die dunkleren, kantigeren,

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