Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
Jahren viele der versunkenen Städte im Tarim-Becken ausgegraben hatte.
Marions Gedanken wanderten, wie so oft, zu dem Schatz in ihrer Tasche. Nach einer Weile wurde ihr Wunsch übermächtig, die kleine Pferdefigur zu betrachten, sie in der Hand zu halten. Sie nestelte das Kästchen aus ihrer Jackentasche und nahm die zerbrochene Figur heraus, dann schob sie das Kästchen an seinen Platz zurück und legte das Jadepferdchen auf ihre Handfläche. Ganz leicht strich sie mit ihren Fingerspitzen über die Oberfläche und erfühlte das kleine Rubinauge; ein Fremdkörper auf der glatten, geschwungenen Oberfläche. Marion fuhr vorsichtig die Konturen nach, bis sie zu der rauhen, scharfzackigen Bruchkante kam. Ein Schauer lief ihr über den Körper. Die Figur hatte nichts von ihrer Faszination eingebüßt; im Laufe der letzten drei Wochen war Marions Wunsch, sie zu behalten, eher noch stärker geworden. Die Scheinwerfer eines Lastwagens ließen die goldenen Schriftzeichen geheimnisvoll aufleuchten. Marion hätte liebend gern gewusst, was sie bedeuteten. War es eine Nachricht? In China gab es bestimmt eine Menge Leute, die ihr helfen konnten, aber dann hätte sie das Jadepferd abgeben müssen. Und das war das Letzte, was sie wollte, auch wenn sie sich zum hundertsten Mal sagte, dass sie eine chinesische Antiquität mit sich herumtrug, auf die sie keinerlei Anspruch hatte. Wenn man sie bei ihr fand, würde sie so tief im Schlamassel sitzen, dass sie nur hoffen konnte, nicht im Gefängnis zu landen.
Sie drehte sich zur Seite und stieß dabei das Kopfkissen von der Pritsche. Leise aufstöhnend strampelte sie sich aus der Decke. Als sie sich aufsetzte, um nach dem Kissen zu greifen, bemerkte sie, dass sich der Käfermann, wie Marion ihn insgeheim nannte, umgedreht hatte und sie anstarrte. Sie fragte sich ängstlich, ob er die Figur gesehen hatte. Im nächsten Moment brach die Hölle über sie herein.
Der Busfahrer schrie entsetzt auf und riss das Steuer nach rechts, aber es war zu spät. Ein außer Kontrolle geratener Lastwagen raste ungebremst in die Fahrerseite des Reisebusses, vermutlich war der Fahrer eingeschlafen. Glas splitterte, Metall riss wie Papier, Menschen stürzten von den oberen Betten. Die Wucht des Aufpralls katapultierte Marion von der Pritsche. Der Käfermann wurde gegen die Windschutzscheibe geschleudert. Sekundenbruchteile später prallte Marion auf seinen schlaffen Körper.
Der Busfahrer war sofort tot, wie eine Puppe von der Schnauze des Lastwagens zerdrückt, die sich in den Bus gefressen hatte. Die ungeheure Kraft des Zusammenstoßes schob die ineinander verkeilten Fahrzeuge über den Rand der Straße hinaus. Erst ein Schotterhügel brachte sie zum Stillstand. Die Motoren erstarben. Für einen kurzen Moment herrschte absolute Stille. Dann begannen die brutal aus ihrem Schlaf gerissenen Passagiere in Panik zu kreischen.
Marions rechtes Knie tat unerträglich weh. Der Schmerz hielt sie bei Bewusstsein und schärfte ihre Sinne. Sie hörte das Klagen und Stöhnen der anderen Fahrgäste, roch das Blut und den ätzenden Gestank von auslaufendem Diesel. Marion lag im Einstiegsbereich, halb auf der Treppe. Die Bustür war bei dem Unfall aufgesprengt worden und hing schief in den Angeln. Der entstandene Spalt war groß genug, dass sie sich hindurchzwängen konnte.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis Marion endlich draußen war. Sie legte sich auf den Rücken und wartete, bis sich ihr Herzschlag beruhigte. Als sie sah, wie sich einige der Passagiere durch die zerborstenen Fenster aus dem Bus herausdrängten, rappelte sie sich hoch und hinkte hinüber, um zu helfen. Gemeinsam mit einem jungen Mann stemmte sie die Bustür auf, dann kletterten sie hinein. Im Dunkeln nahm sie die Umrisse der über die Pritschen und im Gang verstreuten Körper nur schemenhaft wahr. Marion beugte sich erschüttert über eine reglose alte Frau, die auf dem Boden lag. Zu ihrer Erleichterung jammerte die Frau, als Marion ihren Kopf anhob. Der junge Mann kümmerte sich um sie, während sich Marion weiter nach hinten durchkämpfte. Sie wappnete sich innerlich dagegen, Tote und Verstümmelte zu finden.
Wie durch ein Wunder waren nur der Busfahrer und die beiden Insassen des Lastwagens umgekommen, selbst der Käfermann hatte überlebt, wenn auch mit einigen Verletzungen. Es war sein Glück gewesen, dass er sich gerade umgedreht hatte und nicht mit dem Kopf voraus nach vorn geflogen war. Nachdem die Passagiere des Busses den ersten Schock
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