Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
sagte Meister Liu. Es waren leere Worte: Er wusste ebenso gut wie der General, dass diese Figur den Höhepunkt seines Lebens als Bronzegießer darstellte.
»Wie viel willst du dafür haben?«
»Ich verkaufe es nicht.«
»Sei nicht so halsstarrig. Sag mir eine Summe, und ich zahle dir das Doppelte. Du kannst dir jederzeit ein zweites machen.«
»Nein, ich verkaufe es nicht. Aber ich werde es Euch schenken. Euer Gold brauche ich nicht, meine Werkstatt hat mir und meinen Kindern und Kindeskindern mehr als genug eingebracht, und sie werden meine Arbeit fortsetzen. Dies war mein letztes Werk, ich habe erreicht, was ich mir vor vielen Jahren vorgenommen hatte.«
»Ich danke dir«, sagte der General schlicht. »Jetzt ist es an mir zu sagen, dass ich diese Ehre zu würdigen weiß. Ich möchte, dass diese Figur mich in die jenseitige Welt begleitet, wenn meine Zeit kommt. Was sehr bald geschehen könnte«, fügte er nachdenklich hinzu.
»Warum redet Ihr vom Tod? Ihr seid kaum älter als ich.«
»Du lebst in deiner kleinen Welt, Meister Liu. Möge sie nicht gestört werden und sei es dir vergönnt, dein Leben in Frieden zu beenden, aber es steht zu befürchten, dass daraus nichts wird. Hast du es denn nicht gehört? Das Reich ist in Aufruhr, Luoyang wurde bereits vor Jahren in Schutt und Asche gelegt, und Kaiser Xian Di ist nur noch eine ohnmächtige Puppe. Das Reich zerfällt, die Han-Dynastie ist am Ende. Der Krieg steht auch in Wuwei vor der Tür.«
»Was wird passieren?«, fragte Xiao Yi. Er verfolgte zwar das Gerede auf dem Markt, aber bisher hatte er nur verwirrende, sich widersprechende Gerüchte gehört.
Der General zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Und wenn ich ehrlich sein soll, will ich es auch nicht wissen. Ich habe mich nach Wuwei zurückgezogen und der Pferdezucht gewidmet, weil ich die Verlogenheit der Politik nicht mehr ertragen konnte. Die Himmlischen Pferde schienen mir die bessere Gesellschaft im Vergleich zu den irdischen Menschen.«
»Ihr habt ein gar zu schlechtes Bild von den Menschen.«
»Von bestimmten Menschen, lieber Meister Liu. Glaubt mir: Je weiter von der Hauptstadt entfernt, desto besser werden die Leute«, sagte er resigniert. »Ein Bronzeschmied ist mir allemal lieber als ein Ränkeschmied.« Dann wandte er sich an Xiao Yi: »Aber wir wollen den Spiegel nicht vergessen.«
Xiao Yi eilte zu einem Regal und brachte dem General einen in rote Seide eingeschlagenen Gegenstand. Der General wickelte den Stoff ab und begutachtete eingehend die reich dekorierte Rückseite des runden Bronzespiegels. Um den Griff im Zentrum waren die Tiere der vier Himmelsrichtungen angeordnet: der Grüne Drache und der Weiße Tiger, der Rote Vogel und die Schwarze Schildkröte sowie die zwölf Tierkreiszeichen. Mit einem befriedigten Nicken richtete der General die glattpolierte Vorderseite des Spiegels gegen das zur Tür hereinfallende Sonnenlicht. Ein heller Fleck tanzte über die Wände der Werkstatt.
»Eine sehr schöne Arbeit, Xiao Yi. Dieser magische Spiegel sollte Dämonen aller Art von meinem Haus fernhalten können. Vielleicht sogar den Krieg.«
Nachdem der General sie verlassen hatte, fiel Xiao Yi vor seinem Großvater auf die Knie. Seine Augen waren tränenfeucht.
»Warum sagtet Ihr dem verehrten General, dass dies Euer letztes Werk sei, yeye? «
Meister Liu räusperte sich. »Ich werde in wenigen Tagen aufhören zu arbeiten. Du als der Begabteste wirst die Werkstatt weiterführen.«
»Aber ich bin zu jung und brauche Euren Rat!«
»Das mag sein, aber nicht mehr lange.« Meister Liu lächelte gerührt auf den jungen Mann hinunter. »Steh jetzt auf und hör mir zu. Ich möchte dir von dem Abend erzählen, der mein ganzes Leben und Schaffen beeinflusst hat. Ich war damals noch ein junger Mann und wurde von meinem Vater – deinem Ahnen – in der Kunst des Bronzegießens unterrichtet.«
* * *
Liu Yiji schulterte den schweren Sack mit dem Bronzekessel auf seine schmächtigen Schultern und trat aus dem Hoftor. Ein eisiger Wind fuhr unter den dünnen Wollstoff seines Mantels, und der Schnee durchnässte seine abgetragenen Filzschuhe. Nur ein Pelz hätte einen Mann in der Kälte dieses späten Januarnachmittags warm halten können, aber dafür würde ihm immer das Geld fehlen. Pelze und Lederschuhe waren etwas für die reichen Händler und Beamten, nicht für die armen Handwerker. Er zog seine Filzkappe tief in die Stirn, senkte den Kopf und marschierte zum Viertel der Händler.
Kurz
Weitere Kostenlose Bücher