Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
Berge des Westens hatten sie endlich die Sicherheit der Hauptstadt erreicht. Auf sie warteten die Annehmlichkeiten Chang’ans: Badehäuser, beheizbare Betten, Huren, Restaurants, Tänzerinnen und Märkte voller Waren, die aus dem ganzen Reich in die alte Hauptstadt Chinas transportiert wurden. Objektiv betrachtet unterschied sich das moderne Xi’an, das nach dem Untergang Chang’ans nur wenige Kilometer entfernt entstanden war, nicht sonderlich von der alten Stadt.
Marion besuchte Xi’an bereits zum zweiten Mal und freute sich genau wie die Karawanenführer auf das quirlige Leben innerhalb und außerhalb der Mauern. Hatte sie nicht auch die Wüste durchquert? Die Welt ändert sich nie, dachte sie.
Sie krochen im Schritttempo am Nordtor vorbei. Der Bahnhof war nur noch wenige hundert Meter entfernt.
Die Umgebung des Bahnhofs wimmelte von Fußgängern, Fahrradfahrern, Autos und Bussen, die sich ineinander verkeilten, mühsam entwirrten, nur um ein paar Meter weiter in einem neuen Knäuel zum Stillstand zu kommen. Die Kakophonie aus hupenden Bussen, keifenden Menschen, kläffenden Schoßhündchen und lautstark um Kundschaft werbenden Taxifahrern war ohrenbetäubend.
Marion betrachtete die Szene mit Befriedigung: In dieser Stadt war es ein Leichtes, in der Masse unterzutauchen.
Sie bahnte sich einen Weg zum Ausgang des Bahnhofsplatzes. Dort warteten mehrere Taxis, und nach kurzer Verhandlung einigte sie sich mit einem der Fahrer auf einen angemessenen Preis. Sie klemmte den Eimer mit der Schildkröte in den Fußraum des Vordersitzes und stieg ein.
Während der Fahrer sein Auto in den irrwitzigen, keinen erkennbaren Regeln folgenden Verkehr katapultierte, fiel die Anspannung von ihr ab. Sie war an einem halbwegs vertrauten Ort, und außerdem freute sie sich auf Jenny und Greg. Hinter dem Bahnhof fuhren sie durch eine Straße, in der sich auf beiden Seiten ein Friseursalon an den anderen reihte. Nach Einbruch der Dunkelheit würden die Salons in pinkfarbenes Licht getaucht sein und die Friseurinnen viel zu kurze Röcke und viel zu hohe Schuhe tragen.
Der Taxifahrer mied die Hauptstraßen, was Marion recht war. Der Zickzackkurs führte sie durch Nebenstraßen mit drei- und vierstöckigen gelblich grauen Wohnhäusern, Behausungen für die einfachen Leute. Vergitterte Balkons, bis zum Bersten mit Dingen vollgestopft, zeugten von der Enge in den Wohnungen dahinter. Hässliche Abluftkästen für Klimaanlagen unter vielen Fenstern erzählten von unerträglich heißen Sommern – und vom bescheidenen Wohlstand der Bewohner. Obwohl das Viertel alles andere als schön war und die Häuser, sofern sie nicht gekachelt waren, einen Anstrich hätten vertragen können, wirkte die Gegend auf Marion lebendig, beinahe einladend. Vielleicht lag es an all den Menschen auf den Straßen, an den Bäumen, die sich trotz des nahenden Winters weigerten, ihr Laub abzuwerfen, an den Fahrradfahrern, die unbeeindruckt von den Autos ihre schlingernden Kurse durch das Viertel fortsetzten.
Zwanzig Minuten später, nachdem der Taxifahrer sie mit viel Hupen, Schimpfen und Gestikulieren durch den Dauerstau im Zentrum chauffiert hatte, tauchte vor ihnen Nan Men, das gewaltige Südtor, auf. Kurz vor dem Tor bogen sie in eine schmale Straße und hielten vor einem der ersten Häuser. Marion bezahlte den Fahrer, ergriff ihre Tasche und den Eimer und betrat die in einem renovierten alten Haus untergebrachte Jugendherberge. Zu ihrer Überraschung fand sie sich in einer gemütlichen Rezeption wieder. Hinter einem mit chinesischen Ornamenten verzierten Tresen aus braunem Holz unterhielten sich zwei junge Mädchen. An den Wänden hingen Bilder, ein Stadtplan und Prospekte der Sehenswürdigkeiten rund um Xi’an. Zwei schwere, geschnitzte Holzstühle standen neben einem Zeitschriftenregal. Auf Marions Frage, ob es eine Reservierung für Sylvia Müller gäbe, kam eines der Mädchen hinter dem Tresen hervor und stellte sich als Yun vor.
»Ich zeige dir das Zimmer. Brauchst du Hilfe mit dem Gepäck?«, fragte sie.
»Danke. Kannst du den nehmen?« Marion reichte ihr den Eimer.
Yun blinzelte ungläubig durch ihre Brillengläser. »Eine Schildkröte! Willst du sie essen?«
Gleich hinter der Rezeption öffnete sich ein Innenhof, der etwa zehn, zwölf Meter im Quadrat maß. Leihfahrräder lehnten an den Wänden.
Als Marion im Vorbeigehen in eine der von dem Innenhof abgehenden offen stehenden Türen schaute, sah sie im Hintergrund des kleinen Raums mehrere
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