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Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)

Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)

Titel: Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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nach Einbruch der Dunkelheit fand er das Haus der Bing-Familie. Verblüfft blieb er vor dem Tor stehen, dessen Balken so verrottet waren, dass jeder Dieb es ohne Schwierigkeiten hätte eintreten können. Durch einen mannsbreiten Spalt in der Außenmauer erhaschte er einen Blick auf den Innenhof und die Gebäude. Unrat lag herum, und das Dach des Haupthauses war eingesunken. Es hieß, dass es mit der Bing-Familie nicht zum Besten bestellt sei, aber mit dieser Verwahrlosung des riesigen Anwesens hatte Liu Yiji nicht gerechnet. Er klopfte an das Tor, und kurz darauf wurde es von einer schönen jungen Frau geöffnet.
    »Fräulein Bing Po?«, fragte Liu Yiji.
    »Nein, ich bin ihre ältere Schwester, Bing Ping«, sagte sie abweisend. »Wer bist du? Was willst du?«
    »Ich bin der Sohn des Bronzegießers und bringe den Kessel.«
    »Dann folge mir.« Sie drehte sich um und überquerte den schlammigen Hof. Liu Yiji wunderte sich über den Zustand ihrer Gewänder, die zwar aus feinerem Stoff als sein eigener Mantel, aber mindestens ebenso häufig geflickt waren. An den Füßen trug sie bestickte, vom Schlamm ruinierte Pantoffeln.
    Ohne sich um die Etikette zu scheren, führte sie ihn direkt in die große Privathalle. Liu Yiji trat neugierig über die Schwelle, aber statt der erwarteten Pracht empfing ihn ein nur von zwei Öllampen geisterhaft erleuchteter, vollkommen leerer Raum. Helle Flecken an den Wänden verrieten, dass dort vor kurzer Zeit noch Seidenbilder und Kalligraphien gehangen hatten. Bing Ping trat durch eine Türöffnung, und Liu Yiji musste sich beeilen, um die junge Frau nicht aus den Augen zu verlieren. Der nächste Raum war unbeleuchtet. Liu Yiji erschrak, als eine Männerstimme erklang.
    »Wen bringst du ins Haus, Tochter?«, fragte der unsichtbare Mann.
    »Nur den Bronzeschmied.«
    »Gut. Sag ihm, er soll sich das Geld von deinem Großvater holen.«
    Liu Yijis Augen gewöhnten sich langsam an das schwache Licht, das von den flackernden Öllampen aus der Halle hereindrang. In einer Ecke des Raums saß der geheimnisvolle Bing Tong, um den sich so viele Legenden rankten. Es fiel Liu Yiji schwer, die zusammengesunkene Gestalt mit der strahlenden Persönlichkeit in Verbindung zu bringen, die ein nie versiegender Quell des Klatsches für die Marktweiber war: Bing Tong, der eines Tages mit Reichtümern beladen in die Stadt geritten war und noch am selben Tag dem hochnäsigen Pferdehändler Sun Luo seine Aufwartung gemacht hatte. Bing Tong, der einen Mond später nicht nur die bezaubernde Tochter des Händlers heiratete, sondern auch dessen Geschäfte übernahm. Bing Tong, der Emporkömmling aus der Yar-Khoto-Oase im Westen, der in Wuwei sein Glück gemacht hatte.
    Innerhalb kurzer Zeit gebar die schöne Sun Meng ihm zwei Töchter und einen Sohn, und sein Reichtum wuchs. Doch nach einigen Jahren wandte sich das Glück von ihm ab: Die großen Pferdeherden wurden von einer geheimnisvollen Krankheit heimgesucht. Seine zwischen Wuwei, Kucha und Kashgar pendelnden Karawanen wurden immer häufiger Opfer von Räuberbanden, und in seinen Getreidespeichern gab es mehr Ratten als Korn. Im Laufe weniger Jahre war die Bing-Familie hoch verschuldet und verkaufte nach und nach ihren wertvollen Hausrat. Die schöne Sun Meng wurde darüber schwermütig und hatte schon lange ihr Zimmer nicht mehr verlassen. Und dann trug der Westwind das Gerücht nach Wuwei, dass Bing Tong einen Freund ermordet habe, um an dessen Gold zu kommen. Niemand konnte ihm die Tat nachweisen, aber das Gerede verstummte nicht und schadete seinem Ruf, so dass kein Mensch mehr mit ihm Geschäfte machen wollte. Bald liefen auch die Letzten der Dienstboten davon und flüsterten, die Familie sei verflucht.
    Aus einem der angrenzenden Räume erklang ein ersticktes Röcheln und das Murmeln einer Frauenstimme. Eine Gänsehaut kroch Liu Yiji über den Rücken. Auf dem Markt hatte er gehört, dass Bing Tongs Sohn, der nur ein Jahr älter war als er selbst, im Sterben lag, niedergestreckt von einer unheimlichen, ihn von innen aufzehrenden Krankheit. Jetzt bemerkte er auch den Geruch: Das ganze Haus dünstete Tod und Verzweiflung aus, als hätten die Bewohner längst jegliche Hoffnung aufgegeben.
    Auch Bing Ping hatte das Röcheln gehört. Sie ergriff Liu Yiji am Arm und zerrte ihn aus dem Zimmer in den zweiten Hof, der noch verkommener war als der vordere. Liu Yiji kam mit seiner schweren Last kaum hinterher, so rasch eilte sie auf ein unscheinbares Nebengebäude zu

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