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Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)

Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)

Titel: Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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und stieß dort die Tür auf.
    »Leg den Kessel zu den anderen Sachen.«
    »Wohin? Es ist kein Platz.«
    »Warte, ich hole eine Lampe.«
    Wenig später kehrte sie mit einer Öllampe zurück und beleuchtete die mit einer Unzahl von Gegenständen vollgestellte Kammer. An einer Wand stapelten sich Tonmodelle von Häusern, Ställen, Dienstboten, Sklaven, Vieh, Kamelen und sogar einer vollständigen Musikantentruppe. Daneben lagen magische Spiegel aus der Werkstatt von Liu Yijis Vater, Essgeschirr aus Lack und Keramik, Stoffballen, versiegelte Tonkrüge und vieles mehr. Es waren Grabbeigaben.
    »Ist das für deinen Bruder?«, fragte Liu Yiji.
    »Halt den Mund!«, herrschte sie ihn an. »Hilf mir lieber, Platz für deinen hässlichen Kessel zu machen.« Eine Träne rann über ihre Wange, und Liu Yiji biss sich auf die Zunge. Wie hatte er nur so gefühllos sein können?
    Die junge Frau führte ihn auf demselben Weg durch das Haus zurück. Der Raum, in dem Bing Tong gesessen hatte, war jetzt verlassen, aber jemand hatte vor einem Altar mehrere Lampen angezündet. Liu Yiji blieb stehen und verneigte sich vor Lu Xing, dem Gott des Reichtums, dessen Statue auf dem zentralen Platz des Altars stand. Plötzlich stutzte er. An dem Gott lehnte die mit goldenen Schriftzeichen verzierte Jadefigur eines Pferdes. Obwohl das Pferd in der Mitte zerbrochen war und nur die vordere Hälfte auf dem Altar stand, war Liu Yiji von den eleganten Linien und der überragenden Handwerkskunst beeindruckt. Wie im Traum nahm er die Figur vom Altar und betrachtete sie andächtig. Er hatte noch nie eine vollkommenere Arbeit gesehen.
    Bing Ping riss ihn aus seiner Trance.
    »Was stehst du herum und glotzt wie eine Steinschildkröte? Leg das sofort wieder hin«, sagte sie scharf.
    Er stellte das halbe Pferd widerwillig zurück.
    »Du hast gehört, was Vater gesagt hat: Das Geld bekommst du von meinem Großvater Sun Luo. Hier ist nichts mehr zu holen. Und jetzt verschwinde.«

    In den folgenden Tagen und Wochen konnte Liu Yiji an nichts anderes denken als an die zerbrochene Jadefigur. Er spürte die Form, als würde er sie noch in seiner Hand halten, und in den Nächten lag er wach und kämpfte mit dem übermächtigen Verlangen, sich auf das Bing-Anwesen zu schleichen und die Figur an sich zu nehmen.
    Doch er stahl die Figur nicht, sondern widmete von diesem Tag an all seine Energie der Arbeit und wurde bald für seine künstlerischen Bronzen über die Grenzen Wuweis hinaus bekannt. Jede freie Minute verbrachte er auf den Weiden vor der Stadt und studierte die Bewegungen der Himmlischen Pferde, um eines Tages in der Lage zu sein, eine ebenso perfekte Figur zu gestalten wie das kleine zerbrochene Jadepferd, das er nur für einen Augenblick gesehen, aber niemals vergessen hatte.

    »Und heute, nach über vierzig Sommern, ist es mir endlich gelungen«, sagte Meister Liu. »Das Himmlische Pferd ist der Höhepunkt und gleichzeitig der Endpunkt meines Schaffens.«
    Es dauerte lange, bis Xiao Yi sich zu sprechen traute. »Wie ist es mit der Bing-Familie weitergegangen?«, fragte er.
    »Es nahm kein gutes Ende. Nach dem Tod seines Sohnes erkrankte auch Bing Tongs jüngere Tochter und starb nur wenige Monate nach ihrem Bruder, mitten in der Hitze des Sommers. Ihre Mutter, die schöne Sun Meng, wurde wahnsinnig. Im nächsten Winter verschwand Bing Ping. Es hieß, sie sei als Kurtisane in die Hauptstadt gegangen. Bing Tong lebte noch einige Jahre in seinem einsamen Haus, das unaufhaltsam zerfiel. Sein Schwiegervater fand ihn eines Tages tot auf dem Fußboden liegend.«
    »Und das Jadepferd?«, fragte Xiao Yi atemlos.
    »Wahrscheinlich ist es mit Bing Tong in der Gruft seines Schwiegervaters begraben worden. Warum bist du so versessen auf das Pferd?«
    »Vielleicht würde es mich ebenso inspirieren wie Euch.«
    »Dann sieh dir meine Figur an. Ich kann nicht sagen, warum, aber ich bin froh, dass das halbe Pferd vom Erdboden verschwunden ist«, sagte Meister Liu. »Komm jetzt, wir haben noch zu tun.«
    Er freute sich darauf, seine letzte Arbeit zu vollenden.

Xi’an
    November 2004
    D er Zug schlich im Schatten der mächtigen Stadtmauern von Xi’an seinem Ziel entgegen.
    Marion lag auf dem Bauch, spähte aus dem Fenster und versuchte sich vorzustellen, was die Karawanenführer aus alten Zeiten beim Anblick des gewaltigen Bollwerks empfunden hatten: Erleichterung, Freude, Dankbarkeit? Nach Monaten der Schinderei, nach Tausenden Kilometern durch die wilden Wüsten und

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