Die Verborgene Schrift
einmal wieder im Arme einer Schönen zu liegen,« kümmerte sie das nicht. Sie war geheiligt.
Allmählich wurde es auch draußen heiterer. Der Regen hörte auf, die Feuchtigkeit verwandelte sich in erquickende Frische. Vor den Haustüren standen die Landleute und brachten Wein und sonstige Labsal für die Kranken herbei.
Sie begegneten vielen Leuten, die aus Toul geflohen waren. Dazwischen Soldaten der frei gewordenen Belagerungstruppen. Man erzählte: Als sich vor den Eroberern die Tore geöffnet hatten, um die deutschen Truppen einzulassen, stürzten gleichzeitig mit den Bewohnern Hunderte von Leuten heraus, die sich in die Festung geflüchtet hatten, begrüßten die Deutschen als Befreier, drückten ihnen die Hände, umarmten und küßten sie. Sogar die französische Besatzung, die auf dem Glacis stand, begrüßte freundlich die feindlichen Kameraden, die ihnen zu essen brachten. Deutschredende Rothosen drängten sich heran, konnten aber ihr Elsässisch den Plattdeutschredenden nicht verständlich machen.
Françoise sah viel requirierende deutsche Soldaten. Ein stattlicher Dragoner melkte auf offener Straße eine Kuh, ein Artillerist hatte ein Dutzend Hühner, die kreischend mit den Flügeln schlugen, an dem Leibgurt befestigt, überall aber herrschte Humor und eine gewisse beruhigende Ordnung. In den Dörfern waren Postbureaus neu eingerichtet, kleine Feldeisenbahnen beförderten ungestört ihre Güter.
In der Nähe von Frouard dann änderte sich das Bild wieder. Man hätte glauben können, in einem Festkorso mitzufahren. Offiziere aller Grade, auf Ehrenwort freigelassen, kamen lustig, zum Teil sogar ausgelassen in eleganten Chaisen angefahren mit Verwandten, Freunden und Damen jeder Gesellschaftsstufe, die sie von Toul aus begleiteten oder sie dort abgeholt hatten. Aus Nancy wieder strömten Fußgänger und Wagen nach der befreiten Festung hin.
Gegen Mittag waren sie in Nancy. Die Stadt machte, im Gegensatz zu den eben erlebten Szenen, einen gehaltenen, vornehmen Eindruck. Alle Damen waren schwarz gekleidet, phantastisch genug freilich, mit modischen Verschnürungen à la polonaise auf ihren Samtjacken, Falbeln und Spitzen. Dazwischen sah man überall deutsches Militär, meist Kavallerie.
Langsam fuhren sie durch die gewundenen Straßen. Bei jeder Biegung, jeder Einmündung bekam Françoise Herzklopfen. Wenn er ihr plötzlich entgegenkäme! Sie kreuzten die Place Stanislas. Zerstreut verfolgte ihr Auge das heitere Gegitter, das den Platz gegen den Park hin abschließt, glitt über die Fontaine d'Amphitrite, die silbern rauschte, und dann betrachtete sie die an den Toren angebrachten Kronen: lothringische, polnische und französische. Dann sah sie wieder auf die preußische Wache drüben, die gerade eben abgelöst wurde. Das Schauspiel fesselte sie einen Augenblick. Trommler und Spielleute voran, zog die neue Wache auf, mit jenen ruckartigen Bewegungen, die ihr immer komisch erschienen. Die alte Wache steht still. Alle Soldaten haben plötzlich die Gewehre in der Hand und präsentieren. Erst die alte der neuen, dann die neue der alten, ein paar schreiende Kommandos hin und her, Meldungen, dann das »Ratt Ratt« des preußischen Marsches, das sie nun schon gut kennt. Die Figuren treten aus und ein zwischen die Gewehrstützen, wie hinaus- und hineingedreht durch eine Maschine. Auf dem Platz hat sich die Musik aufgestellt und spielt. Eine Menge Volk steht umher und hört zu. Einige halten sich ostentativ die Ohren zu wie vor etwas Widerwärtigem.
Françoise nahm das alles in sich auf, ohne eigentlich es zu sehen und zu hören. Aber angesichts der Vergangenheit und Gegenwart, die sich da auf dem alten Platze schicksalsvoll zusammendrängte, wurde es wohltuend still in ihr. Sie fühlte sich unwichtig und klein, ihr Dasein nur ein Mückentänzchen im Strahl der Ewigkeit.
Jetzt waren sie am Palais ducal angelangt, in dem man das Lazarett untergebracht hatte. Das ganze Erdgeschoß des schönen alten Gebäudes war dazu benutzt, selbst die Gemäldegalerie belegt.
Françoise half ihre Kranken aufbetten und auf die Trage legen. Sie war jetzt ganz ohne Ungeduld, in sich gesammelt, wie der Gläubige, der auf ein Sakrament wartet. Ohne Übereilung tat sie ihre Pflicht der Barmherzigkeit zu Ende, mit Umsicht und Genauigkeit. Ins Palais selber durfte sie nicht, die Regel des dort arbeitenden Mönchsordens verbot es. Das enttäuschte sie bitter. Sie hätte gern Heinrich drinnen überrascht. Nach kurzem Nachdenken übergab
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